Bruder
Pius, wann trat die Stille in Ihr Leben?
Ich habe
schon in meiner Kindheit Stille erleben dürfen, etwa als Ministrant bei
der eucharistischen Anbetung. Heute ist die Stille Teil meines Lebens
als Kapuziner. Vertieft habe ich das Ganze in der Ausbildung zum
Exerzitienleiter vor dreißig Jahren. Exerzitien sind intensive und
stille Übungen, die abseits des Alltags zur Begegnung mit Gott führen
können. Seit dieser Zeit gehören die Stille und das Schweigen noch mehr
und expliziter zu meiner Biographie.
Sie
haben gesagt, „Gott ist ein Freund der Stille“. Warum?
Weil Gott
in der Stille bei den Menschen ankommen kann. Das passiert nicht im
Lauten, im Beschäftigten, im Sensationellen. Der Prophet Elija etwa
erfährt Gott nicht im Erdbeben oder im Sturm, also in den gewalttätig
großen Elementen. Sondern er nimmt Gott in der Stille wahr, im leise
verschwebenden Schweigen. Dort hört er die Stimme Gottes.
Andere
sagen, man spürt Gott eher dort, wo es laut, schrill und dreckig ist.
Das würde
ich fast ausschließen. Natürlich kann man Gott überall begegnen, zum
Beispiel in den Mitmenschen oder in der Natur. Aber der eigentliche Raum
der Gottesbegegnung ist die Stille des Herzens. Das ist auch meine
Erfahrung bei den Exerzitien.
„Gott in
der Stille entdecken.“ Wenn man das noch nicht erlebt hat: Wie kann man
sich das vorstellen?
Es ist ein
Empfinden. Man spürt in diesen Momenten: Gott ist da, Gott ist
gegenwärtig. Stille und Schweigen sind für mich die Voraussetzung, in
Gottes Gegenwart zu verweilen. Um das zu spüren, reicht es natürlich
nicht, einfach einen Schalter umzukippen und das Radio abzustellen. Dazu
braucht es Zeit, Übung und Geduld.
Den Lärm
in einem selbst kann man nicht einfach ausstellen.
Ja, das ist
in der Tat so. Es geht um das In-sich-Hineinhören, auf die innere Stimme
achten. Auch da ist ja viel Lärm, Gebrodel und ein schriller innerer
Chor des Argwohns, der Ängste, des übertriebenen Ehrgeizes und des
Misstrauens. Diesen Chor gilt es zu beruhigen. Zur Ruhe zu kommen. Und
das braucht Zeit.
Stille
kann auch negative Dinge empor tragen.
Natürlich.
Das, was ich sonst wegschiebe und verdränge, holt Stille und Schweigen
hervor. Menschen lenken sich ständig ab, fliehen in Agitation und
Unterhaltung. Viele haben ihre eigene Mitte verloren. Es geht bei diesem
Prozess deswegen vor allem darum, das „Ich“ still werden und zur Ruhe
kommen zu lassen. Wenn sich Gelassenheit nicht nur äußerlich, sondern
auch innerlich ausbreitet, dann gibt es eine Wahrnehmung und Erfahrung
von und mit Gott. Dazu gehört wesentlich, auch innerlich stiller zu
werden.
Wie
schaffe ich das?
Erst einmal
geht es um die äußere Stille. Wenn das klappt, kann man diese nach Innen
führen und sich sammeln.
Wenn mir
das gelungen ist, was passiert dann?
Stille ist
die wesentliche Voraussetzung für ein aufmerksames Hören. Auf das Wort
Gottes und auf die inneren Eingebungen. Stille und Schweigen helfen, das
Wort Gottes zu hören und es wirklich in sich aufnehmen. Stille und
Schweigen sind auch Nährboden für eine gesunde Selbstfindung.
Macht
Stille eigentlich einsam, oder kann man in dieser auch Gemeinschaft
erfahren?
Für mich
persönlich macht Stille nicht einsam. Ich liebe die Stille, ich brauche
sie. Und meine Erfahrung zeigt, dass Stille auch Gemeinschaft schaffen
kann. Nicht selten sind, zum Beispiel bei Exerzitien, Schweigen und
Stille ja gemeinschaftliche Erfahrungen. In diesen Fällen trägt die
Stille und schafft Gemeinschaft. Man kann den anderen auch in der Stille
kennenlernen. Bei uns in der Gemeinschaft hier im Kloster ist das so:
Wir haben einmal pro Monat eine halbe Stunde gemeinsames Schweigen vor
dem Allerheiligsten bei uns im Chor. Das ist immer eine sehr wohltuende
Erfahrung für mich, die ich liebe. Von mir aus könnte das noch häufiger
stattfinden.
Es gibt
auch Orden, die in Sachen Stille und Kontemplation weiter gehen als die
Kapuziner. Warum sind Sie Kapuziner geworden?
Das hat in
meinem Fall ganz konkrete Gründe: Ich hatte einen Onkel, der Kapuziner
war. Dieser hat mich in der Kindheit auf den Geschmack gebracht. Und der
Grundsatz der „Vita mixta“, des gemischten Lebens, der die Kapuziner
ausmacht, passt auch gut. Ich konnte bei den Kapuzinern eine gute
Mischung realisieren: Auf der einen Seite die Kontemplation, auf der
anderen Seite der Dienst am Mitmenschen. Ein reiner Schweigeorden wäre
bei aller Liebe zur Stille dann auch nichts für mich.
Von
Franziskus ist zum Thema Stille folgendes Zitat überliefert: „Wo die
Stille mit dem Gedanken Gottes ist, da ist nicht Unruhe, noch
Zerfahrenheit.“ Welche Rolle spielte die Stille in seinem Leben?
Sie
zitieren da einen sehr schönen Satz, der mich berührt. Die Stille
spielte eine sehr große Rolle im Leben von Franziskus. Er hat sich
häufig auch zu längeren Ruhezeiten von den Brüdern zurückgezogen. Es gab
viele Orte der Stille, die er immer wieder aufsuchte.
Bruder
Pius, in Ihren Exerzitien treffen Sie auf sehr unterschiedliche
Menschen. Warum suchen Menschen die Stille?
Immer
wieder taucht in den Gesprächen das Bild vom Hamsterrad auf. Die
Menschen fühlen sich eingespannt, sind gefordert und überfordert. Und
dieser Trend nimmt definitiv zu. Diese Tretmühle – und damit verbunden
Hast und Lärm, Zeitnot und ruhelose Betriebsamkeit – ist ein Zeichen
unserer Zeit.
Zum
Abschluss: Haben Sie einen Tipp für den Alltag?
Eine
Möglichkeit ist, den Tag mit einem Gebet zu starten oder zu beschließen.
Das muss nicht lang sein, aber es kann ein Anker sein. Eine andere
Möglichkeit: Richten Sie sich eine Ecke in Ihrer Wohnung ein, mit einer
Ikone, einer Kerze, einer Blume oder einer Bibel. Dort können Sie zur
Ruhe kommen. Ohne Pensum oder bestimmtes Programm. Da muss es kein Gebet
sein, denn es kommt nicht auf die Worte an. Nicht wer viele Worte
spricht, wird erhört. Einfach verweilen, in aller Stille die Erfahrungen
des Tages sammeln und vor Gott bringen. Mich ihm hinhalten. Das ist
segensreich, heilt und stärkt. Stille hat eine unwahrscheinliche Kraft.
Vielen
Dank für das Gespräch!
Das
Interview führte Tobias Rauser, Medienbeauftragte der deutschen
Kapuzinerprovinz, Oktober 2020
Das Interview ist auch auf der Homepage der Kapuziner der
Deutschen Kapuzinerprovinz
in der Rubrik "Was uns bewegt: Kapuziner im Gespräch" unter der Frage
"Wie sehen Kapuziner sich und die Welt?" veröffentlicht. In dieser
Gesprächsreihe mit Kapuzinern, die Ende 2020 gestartet ist, widmet sich
jedes Interview einem bestimmten Thema.
-
Wie wichtig ist Heimat?
- bereits veröffentlicht
-
Wie gehe ich mit Trauer
um?
-
Zweifeln Sie manchmal an
Gott? - bereits veröffentlicht
-
Welche Bedeutung hat
Stille? - siehe vorstehendes Interview
-
Wie bleibe ich achtsam?
Nachfolgend der entsprechende Link:
https://www.kapuziner.de/kapuziner-im-gespraech/ |