EVANGELIUM
Lasst beides wachsen bis zur Ernte
+ Aus
dem heiligen Evangelium nach Matthäus
In jener Zeit
24erzählte
Jesus der Menge folgendes Gleichnis: Mit dem Himmelreich ist es wie mit
einem Mann, der guten Samen auf seinen Acker säte.
25Während
nun die Menschen schliefen, kam sein Feind, säte Unkraut unter den
Weizen und ging weg.
26Als
die Saat aufging und sich die Ähren bildeten, kam auch das Unkraut zum
Vorschein.
27Da
gingen die Knechte zu dem Gutsherrn und sagten: Herr, hast du nicht
guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher kommt dann das Unkraut?
28Er
antwortete: Das hat ein Feind getan. Da sagten die Knechte zu ihm:
Sollen wir gehen und es ausreißen?
29Er
entgegnete: Nein, damit ihr nicht zusammen mit dem Unkraut den Weizen
ausreißt.
30Lasst
beides wachsen bis zur Ernte und zur Zeit der Ernte werde ich den
Schnittern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut und bindet es in Bündel, um
es zu verbrennen; den Weizen aber bringt in meine Scheune!
Ist es Ihnen schon so ergangen, dass Sie
den Eindruck hatten: das Bild, das andere von Ihnen haben, ihre Kollegen
etwa oder ihre Stammtischfreunde, Verwandte oder Nachbarn …, dass dieses
Bild erheblich von dem Bild abweicht, das Sie selbst von sich haben? Wie
oft klaffen Fremdwahrnehmung und eigene Wahrnehmung auseinander!
Man schiebt Ihnen z.B. ein schäbiges
Motiv unter, wo Sie es ganz ehrlich gemeint haben. Oder man traut Ihnen
etwas Schlechtes zu, wo Sie in bester Absicht gehandelt haben. Ihre
Mitmenschen haben dann einen ganz anderen Eindruck, ein ganz anderes
Bild von Ihnen als Sie von sich selbst. Dann sagen Sie vielleicht:
Die sehen mich verkehrt. So wie die
meinen, dass ich bin, so bin ich ja gar nicht. Die machen sich ein ganz
falsches Bild von mir.
Manchmal ist es umgekehrt: Sie
spielen sich als edel, selbstlos oder großzügig auf und Ihre Umgebung
fällt darauf rein und zollt Ihnen Anerkennung: Was ist das doch für ein
guter, edler, hilfsbereiter Mensch! – Dann sagen Sie im stillen
Kämmerlein zu sich selbst: Das Bild, das sich die Leute von mir machen,
stimmt gar nicht. Wenn die wüssten! In Wahrheit bin ich ganz anders.
Hinter der Maske meiner Freundlichkeit und Zuvorkommenheit steckt ein
ganz anderes Gesicht. Ich entspreche nicht dem Ausweis, den ich anderen
Leuten vorzeige.
Wer bin ich nun eigentlich? Bin
ich das, was andere von mir denken? Oder bin ich das, was ich selbst von
mir wahrnehme?
Oder bin ich beides zugleich: Unkraut und
Weizen?
Ein Pfarrer hat einmal folgendes
erlebt: In einer vornehmen Familie, die er besuchte, war gerade auch der
25-jährige Sohn anwesend. Er stand im Ruf, das zu sein, was man einen
„missratenen Kerl“ nennt. Er hatte ziemlich üble Sachen angestellt,
einige Male auch mit der Polizei zu tun bekommen und seiner Mutter fast
das Herz gebrochen. – Der setzte sich nun plötzlich ans Klavier und
spielte einen Choral aus der Matthäus-Passion. Er spielte voller
Ergriffenheit und Beteiligung. Und das rührte den Pfarrer an. Seine
Schwester aber zischte ihm ins Ohr: „Dieser Heuchler!“ – Sie deutete das
Spiel offenbar so, dass ihr Bruder dem Pfarrer etwas vormachte, was gar
nicht stimmt, dass er einen guten Eindruck machen wollte.
Ja, war er nun wirklich ein Heuchler? Wer
oder was war er nun eigentlich und letztlich? War er im Kern seines
Wesens der, der immer wieder in fremde Kassen gegriffen und ein ziemlich
übles Leben geführt hatte? Oder war er im Kern seines Wesens der Mensch,
der mit Inbrunst diesen Choral spielte und darin vielleicht nach
Erlösung schrie, in dem eine ungeheure Heils-Sehnsucht steckte, der sich
im tiefsten Grunde selbst verachtete und den Dreck aus seiner Seele
fortzuspülen suchte?
Christa Weiß schreibt: Seit
Jahren schon laufe ich mit einer Maske umher. Die ist mein zweites
Gesicht geworden. Ich habe gelernt, wie man es macht, seine Schwächen
zuzudecken und die Gefühle zu verbergen. Ich lächle verbindlich, aber
mein Lachen ist nicht echt. Ich lege Sicherheit an den Tag, aber in
Wirklichkeit spiele ich Theater. Ich tue so, als fiele mir alles in den
Schoß, als irrte ich niemals, als hätte ich weder Sehnsucht noch
Heimweh. – Warum bin ich nicht so, wie ich wirklich bin? Wenn ich für
mich und allein bin, fällt mir die Maske vom Gesicht. Wenn dann einer
käme und sagte: Ich mag dich trotzdem. Ich will dich so wie du bist. Ich
brauche dich …
Wer bin ich?
Kein Mensch kann beurteilen, wer der
andere eigentlich ist.
Ob Gott allein es vielleicht weiß? Ob der
nicht möglicherweise sagt: Dieser hat Hunger und Durst nach der
Gerechtigkeit in sich. Er weiß auch um seine dunklen Flecken. Darum ist
er mir lieber als mancher Selbstsichere und Selbstgerechte, der in
seiner vermeintlich weißen bürgerlichen Weste auf andere herabschaut.
In den letzten Tagen des Krieges
wurde der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer durch die Gestapo
erhängt.
Er musste sterben, weil sein Glaube ihn
zu bekennendem Widerstand gegen das Nazi-Regime gedrängt hatte.
Seine Bewacher und Mitgefangenen
schätzten ihn sehr, weil er sich nicht unterkriegen ließ und selbst in
Ketten ein souveräner Mann blieb. Er strahlte viel Mut und Zuversicht
aus.
Aber Bonhoeffer kannte auch Stunden der
Mutlosigkeit und der Unruhe. Doch diese hielt er vor fremden Augen
verborgen.
Ein Gedicht von ihm lautet:
„Wer bin ich? – Sie sagen mir oft, ich
träte aus meiner Zelle gelassen und heiter und fest wie ein Gutsherr aus
seinem Schloss. Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? Oder bin
ich nur das, was ich selbst von mir weiß? Unruhig, sehnsüchtig, krank,
wie ein Vogel im Käfig…, müde und leer zum Beten, zum Denken, zu,
Schaffen? – Wer bin ich? Der oder jener? Bin ich beides zugleich: vor
Menschen ein Heuchler und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger
Schwächling? –Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich
auch bin, du kennst mich, dein bin ich, o Gott.“
Was bedeutet es, dass Gott mich kennt
und dass ich sein bin?
Das bedeutet, dass wir Menschen weder uns
selbst noch unsere Mitmenschen ganz und restlos verstehen. Wir
durchschauen und kennen weder uns selbst ganz, viel weniger den anderen
und seine Motive des Handelns und Denkens, was bei ihm vorgeht und wie
es bei ihm auf dem Grund, in der Tiefe seines Herzens aussieht.
Jeder Mensch ist ein Geheimnis. Die
Konsequenz daraus:
Wir sollten deshalb viel zurückhaltender
sein und viel vorsichtiger, wenn wir urteilen und uns ein Bild vom
anderen machen.
Wie schnell haben wir jemanden
festgelegt, ihn in ein bestimmtes Schema gepresst, mit Vorurteilen
belegt, abgestempelt, abgeschrieben. Wie schnell sind wir bei der Hand,
zu kritisieren und zu richten, Mitmenschen schlecht zu machen, nichts,
aber auch gar nichts Gutes an ihnen zu lassen? Beim anderen sehen wir
oft nur noch das Unkraut wachsen.
Das Unterscheiden, Richten und
Verurteilen steht nicht uns Menschen zu. Wir können es ruhig Gott
überlassen, der uns besser kennt als wir uns selbst. Uns steht es nicht
zu auszureißen, auszumerzen, zuzuschlagen, wenn uns das Böse begegnet,
sondern einander zu ertragen, auch wenn uns nicht alles an am anderen
passt, auch wenn uns manches an ihm aufregt und wir manches auszusetzen
haben.
Kein Mensch kann beurteilen, wer der
andere eigentlich ist.
Ob Gott allein es vielleicht weiß? Ob der
nicht sagt: „Ich mag dich trotzdem. Ich will dich so, wie du bist.
Ich brauche dich …?“
Ob Gott nicht möglicherweise sagt: Dieser
kennt seine Schwächen und sein Versagen. Er weiß, dass es neben dem
Guten auch das Böse in seinem Herzen gibt. Er ist sich bewusst, dass auf
dem Ackerfeld seines Lebens neben dem Weizen auch Unkraut wuchert. Aber
er hat ein großes Vertrauen in meine Barmherzigkeit. Er glaubt ganz fest
an meine Geduld und Güte. Und darum ist er mir lieber als jener
Scheinheilige, Rechtschaffene mit seinen Verdiensten, der meint, bei ihm
gäbe es nur gute Früchte, der Acker seines Lebens sei aufs Beste
bestellt.
„Wer ich auch bin, du kennst mich,
dein bin ich, o Gott!“
Der Gedanke, das Gott uns durch und durch
kennt, dass er um uns weiß, könnte etwas Erschreckendes an sich haben.
Von jemandem bis in die letzte Falte der Seele durchschaut zu sein,
gleichsam durch und durch geröntgt zu werden, ist ein schockierender
Gedanke. – Wenn aber das stimmt, was Jesus uns von seinem Vater gesagt
hat, dann ist es nicht mehr schockierend und furchtbar. Dann ist es auf
einmal geradezu tröstlich, so durchschaut zu werden. Denn Gott schaut
voll Liebe und Güte auf uns. Er versteht uns und nimmt uns an und sagt
ja zu uns. Er sagt: „Ich mag dich trotzdem. Ich will dich so wie du
bist.“ Denn seine Liebe und sein Erbarmen ist größer als alle Sünde
und seine Gnade ist stärker als alle Schuld.
Von Gott verstanden zu werden, das ist
deshalb eine mitreißende Nachricht, wirklich frohe Botschaft. Ich werde
dann von jemandem gekannt und verstanden, dem es um mich geht, der mich
bei meinem Namen ruft und der es gut mit mir meint. Das meint Bonhoeffer
mit dem Wort: „Wer ich auch bin, du kennst mich, dein bin ich, o
Gott!“ – Es gibt einen der sich zu mir bekennt und der zu mir hält,
wer immer ich auch bin, wie immer es mir geht und was immer ich auch
getan habe.
Beachten Sie auch meine beiden
Predigten "Was
machen wir mit dem Unkraut" bzw. "Blinder
Eifer schadet nur" zur gleichen Bibelstelle
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