Wir kennen die
Geschichte von dem Menschen, der auf dem Weg von Jerusalem
nach Jericho überfallen, halb totgeschlagen, ausgeraubt und
dann völlig hilflos sich selbst überlassen wird.
Wir kennen auch die
zahlreichen Auslegungen und Deutungen zu dieser Erzählung,
die zu den bekanntesten im Neuen Testament gehört. Schon
immer hat man gewusst, was Jesus mit diesem Gleichnis
unmittelbar und anschaulich sagen wollte: nämlich, dass
Hilfsbedürftigkeit und Not jeden Menschen uns zum Nächsten
machen.
Dennoch haben die
Christen schon früh die Geschichte noch ganz anders
verstanden. Sie haben nämlich in ihr eine Christus-Ikone
gesehen, ein Bild, das Jesus von sich selbst hinterlassen
hat. Er selbst ist der barmherzige Helfer, der
„Samariter“, der sich über die sterbende Welt und über jeden
einzelnen Menschen beugt. Er ist in die Welt gekommen,
„um alle Menschen zu retten“ (Tit 2, 11). – So
verkünden es die Engel den Hirten auf dem Feld. „Heute
ist euch in der Stadt Davids der Retter, der Heiland,
geboren, Christus, der Herr.“ – So predigt bereits im
zweiten Jahrhundert Irenäus, im dritten Jahrhundert Origines,
im vierten Jahrhundert Ambrosius.
Ein besonders
eindrucksvolles Beispiel für diese Sicht und Auslegung
ist die älteste uns erhaltene bildliche Darstellung des
Gleichnisses vom barmherzigen Samariter. – Sie zeigt einen
nackt und hilflos am Boden liegenden Menschen. Und über ihn
beugt sich – ernst und gütig, helfend und heilend – der
„Samariter Christus“.
Das Bild ist etwa 1500
Jahre alt. Es entstand im sechsten Jahrhundert in Kleinasien
und findet sich im
sogenannten
„Purpurcodex von Rossano“, einer alten kostbaren
Evangelienhandschrift. Es ist eines der schönsten frühen
Bilder von Jesus Christus. Über eineinhalb Jahrtausende
hinweg überbringt es uns die Sichtweise und das gläubige
Bekenntnis eines unbekannten Christen aus Syrien: Jesus, der
uns die Geschichte vom barmherzigen Samariter erzählt hat,
will uns damit nicht nur sagen, wie wir aufeinander zugehen
und miteinander leben sollen, sondern er hat uns zugleich
ein Bild von sich selbst gegeben: Von sich dem Helfer und
Retter – und von uns, den Hilflosen, den seiner Hilfe
Bedürftigen.
Schauen wir dieses Bild
genauer an.
Christus auf der linken Seite
befindet sich ganz auf der Ebene des Menschen, der in der
Mitte des Bildes langgestreckt
auf der Erde liegt, während der Engel, fast schwebend, sich
vom linken Bildrand her – eine goldene Schale in seinen
verhüllten Händen – ehrfürchtig zur Szene und zur Bildmitte
hinneigt. Wie ein Diakon reicht er – das Sich-Neigen des
Herrn mitvollziehend – das Gefäß dar.
Christus beugt sich
vor und neigt sich tief zum hilfsbedürftigen Menschen hin.
Sein Haupt – von einem großen
goldenen Nimbus umgeben – und seine Hände, die sich zum
Menschen, der am Boden liegt, ausstrecken, bilden die Mitte
des Bildes. Die Augen des Samariter Christus sind weit
aufgetan, wie von Entsetzen und Mitleid. „Als er ihn sah,
hatte er Mitleid mit ihm“, heißt es in dem Gleichnis. Er
wurde im Innersten von Erbarmen berührt und von tiefem
Mitgefühl erfasst.
Der
Mensch liegt wahrhaftig ganz und gar am Boden. Er ist im
wahrsten Sinne des Wortes „total unten“. Niedergestreckt,
zerschlagen, ausgeplündert, halb tot liegt er da (vgl. Lk
10, 30). Eine armselige, nackte, völlig hilflose
Menschengestalt, fast ohne Konturen, fast ohne Farben
dargestellt. Nur sein linkes Auge lässt erkennen,
dass er noch nicht gestorben ist.
Christus – in
Sandalen, mit blauem Untergewand und goldenem Obergewand –
sieht den Menschen. Er geht nicht vorbei. Er nimmt sich des
Menschen an. Er wendet sich ihm zu. Er beugt sich nieder.
Dann wird er – wie es in der Erzählung heißt – Öl und Wein
auf seine Wunden gießen, sie verbinden, den Menschen
aufrichten, ihn auf sein Lasttier heben und ihn in eine
Herberge bringen.
So wird deutlich, was
der Purpurgrund symbolisiert: Das göttliche Erbarmen, die
alles umgreifende, alles erfüllende Liebe Gottes in Jesus
Christus – hindurchgegangen durch das Blut der Passion.
Am Ende der
Beispielerzählung fragt Jesus den Gesetzeslehrer:
„Was meinst du? Welcher von den Dreien ist der Nächste
dessen geworden, der unter die Räuber gefallen war?“ Er
antwortete: „Derjenige, der das Werk des Erbarmens an ihm
getan hat.“ Da sagte Jesus zu ihm: „Geh und tu
desgleichen!“ (Lk 10, 36f).
„Geh und tu desgleichen“,
sagt Jesus zum Gesetzeslehrer. So sagt Jesus zu uns.
-
Sollten wir da stehen, wo
dieser Engel steht?
-
Oder sind es die Hände
des Herrn selbst, die uns meinen mit diesem „Geh hin
und tu desgleichen?“
Es gibt so viele
hilfsbedürftige Menschen. Täglich sehen wir sie. Täglich
begegnen wir dem Leid: Menschen, die ganz unten sind, am
Boden zerstört, verlassen, einsam, beiseitegeschoben,
niedergedrückt, niedergeschlagen, ausgepowert,
zusammengebrochen?
Und wie ohnmächtig und
heillos liegt doch unsere ganze Welt danieder?
-
Bin ich sensibel,
feinfühlig, hellsichtig und hellhörig für die Not und
das Leid um mich herum?
-
Bin ich mir bewusst, dass
die Nähe eines Menschen gesund machen, gut machen, froh
machen kann?
Dieser Mensch hat keinen
Namen und kann gerade deshalb viele Namen tragen. Er
kann sich nicht mehr selbst helfen. Er ist darauf
angewiesen, dass sich jemand voll Erbarmen und Mitleid
ihm zuwendet.
Noch mehr: Bin ich mir
bewusst – und gestehe ich es mir ein – dass ich ein
verletzter, ein heilungsbedürftiger, ein
erlösungsbedürftiger Mensch bin?
Und noch etwas: Kenne
ich meinen Retter?
-
Weiß ich, dass er sich in
diesem Augenblick über mich beugt, sich meiner annimmt
und sich meiner erbarmt?
-
Gebe ich ihm mein ganzes
Elend und mein Leben in die Hand?
Es ist an dieser Stelle
so schnell „Ja“ gesagt, darum noch einmal:
-
Gebe ich ihm wirklich
mein ganzes Elend, mein ganzes Leben in die Hand?
-
Weiß ich, dass ich im
Tiefsten Jesus brauche als meinen Heiland und Erlöser?
Schauen wir auf das Bild!
Schauen wir auf Jesus!
Schauen wir auf uns
selbst! Und hören wir:
Samariter Christus
Du siehst.
Du gehst nicht vorbei.
Du beugst dich nieder.
Du rührst an.
Du richtest auf.
Du heilst.
Samariter Christus
Sieh auch mich an.
Komm mir zu Hilfe.
Beuge dich über mich.
Rühre mich an.
Richte mich auf.
Heile mich.
Samariter Christus
Du rufst uns,
dass auch wir
sehen und nicht vorbeigehen,
uns niederbeugen und helfen,
aufrichten und heilen
zusammen mit Dir.
Samariter Christus |