Ein großes blaues „S“ prägt und
beherrscht das Bild von oben bis unten, von einer Seite zur anderen –
wie ein Fluss, der sich von durch eine Landschaft schlängelt.
Das
Bild befindet sich im Zisterzienser-Graduale
aus Wonnental bei Kenzingen im Breisgau (ehemaliges
Zisterzienserinnenkloster) und stammt aus dem 14. Jahrhundert.
Das „S“ ist der Anfangsbuchstabe
(Initiale) des Eingangsliedes zum Pfingstfest: Spiritus dominus replevit
orbem terrarum = Der Geist des Herrn erfüllt den Erdkreis.
In Gestalt einer Taube senkt sich der
Heilige Geist aus einer lichten Wolke auf eine betende Menschengruppe
herab. Er schwebt nicht, sondern stürzt förmlich Kopf vor im Flug nach
unten. Zwölf Strahlen gehen von ihm aus und verteilen sich auf Maria und
die Apostel.
Das mit Blüten und Ranken verzierte „S“
unterstreicht die Bewegung des Geistes vom Himmel auf die Erde. Wie die
Linienführung des Buchstabens das ganze Bild erfüllt, so erfüllt der
Geist Gottes die Menschen, die kaum fassen können, was ihnen und wie
ihnen geschieht. Ihnen gehen die Augen über angesichts der Ereignisse,
dessen Zeugen sie werden.
Zwei Ereignisse werden hier
zusammengebracht:
Erstens: Die Jünger nach der Himmelfahrt
des Herrn im Gebet versammelt.
Zweitens: Die Herabkunft bzw. Ausgießung
des Heiligen Geistes.
Maria – im roten Mantel und mit weißem
Schleier – sitzt aufrecht und die Hände gefaltet in der Mitte. Sie ist
die zentrale Gestalt, auch ein wenig größer als die anderen und auch ein
Stückchen von den anderen abgesetzt, die wiederum dicht beieinander
stehen.
Der Maler lässt einige Apostel erstaunt
auf die Feuerzungen auf dem Kopf der Mutter Jesu schauen, während sie
selbst ebenso entflammt werden.
Maria scheint zu dem Apostel recht von
ihr zu schauen. Dieser wiederum hat seinen Blick und die linke Hand auf
sie gerichtet.
Es handelt sich um den Apostel Paulus, am
Schwert, das er trägt, zu erkennen.
„Historisch“ betrachtet war er am
Pfingsttag sicher nicht dabei.
Zunächst war er ja ein Feind Christi und
ein Verfolger der Kirche. Seine Bekehrung wird in der Apostelgeschichte
erst später berichtet.
Links von Maria aus gesehen ist Petrus
dargestellt. Er hält einen übergroßen Schlüssel in der Hand. Petrus, der
„Fels“, auf den Jesus seine Kirche bauen wollte und dem er die
Schlüsselgewalt, die Vollmacht zu binden und zu lösen, übergeben hat (Mt
16, 18 - 19).
Rechts und links von Maria also die
beiden Apostelfürsten.
Hinter ihnen – dicht gedrängt – die
anderen Jünger, ebenfalls in gesammelter Gebetshaltung mit gefalteten
Händen.
Die meisten von ihnen schauen zur Mitte
und haben den Blick auf Maria gerichtet.
Zwei von ihnen – am rechten Bildrand –
schauen überraschend und auffälligerweise nicht zur Mitte. Der eine –
ganz rechts – schaut und deutet mit seiner linken Hand aus dem Bild
heraus. Vielleicht ein Hinweis darauf, dass draußen schon „die Menge“
(Apg 2, 6) zusammenströmt, um das Wort der Apostel zu hören.
In der anderen Hand hält er ein goldenes
Medaillon, worauf ein Adler abgebildet ist. Der Adler ist das Symbol des
Evangelisten Johannes. Er weist hin auf die hohen Gedankenflüge des
Evangelisten. Was sieht er? Was packt ihn? Was hat er vor?
Er scheint im „Aufbruch“ zu sein. Am
Ostermorgen ist er zum Grab vorausgeeilt. Der Jünger hinter ihm beäugt
ihn ganz verwundert.
Doch noch sind alle im „Obergemach“ (Apg
1, 13); hinter einer hohen, gelbleuchtenden Backsteinmauer, die unten
und seitlich vom „S“ umrahmt ist. In der Mitte der Mauer ist ein Tor
sichtbar. Die Torflügel sind (noch) geschlossen. Doch die verwandelnde
Kraft des Geistes öffnet Türen und bringt in Bewegung.
Mauer und Tür könnten Jerusalem oder auch
das Haus andeuten, in dessen „Obergemach“ sich die Jünger nach der
Himmelfahrt des Herrn versammelt hatten.
Eine verschworene und doch verschlossene
Gesellschaft.
Im nächsten Augenblick aber wird sie die
„Kraft von oben“ anfeuern und zu Zeugen Jesu machen, „in Jerusalem,
in ganz Judäa und Samaria und bis zu den Grenzen der Erde“ (Apg 1,
8).
Was auffällt: Die überwiegend jungen
Gesichter. Eine junge, lebendige, geisterfüllte Kirche. Kein
„Altherrenclub“!
Was noch auffällt: Die unterschiedlichen
Farben der Gewänder.
Möglicherweise ein Hinweis darauf, dass
die Apostel ganz unterschiedliche Persönlichkeiten sind mit je eigenen
Fähigkeiten und Meinungen. Pfingsten hebt diese Unterschiedlichkeiten
nicht auf, ermöglicht aber eine neue Einheit im Geist, eine Einheit in
fruchtbarer Verschiedenheit.
Die Mauer und die verschlossene Tür
könnten auch eine Anfrage an uns sein, ob wir uns öffnen für Gottes
Geist, für seine überraschenden Möglichkeiten, wenn alles scheinbar
erstarrt und unbeweglich erscheint – bei uns selbst, in unseren
Gemeinden, in der Kirche und weltweit.
Wer sich vom Geist Gottes ergreifen lässt
wie die Apostel, der wird „Feuer und Flamme“ für Gott und sein Reich.
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