geistliche Impulse

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Bildmeditation

von P. Pius Kirchgessner, OFMCap

 

Vom Heiligen Geist erfüllt

(Zisterzienser-Graduale aus Wonnental/Breisgau, um 1350) 

 

 

Ein großes blaues „S“ prägt und beherrscht das Bild von oben bis unten, von einer Seite zur anderen – wie ein Fluss, der sich von durch eine Landschaft schlängelt.

 

Das Bild befindet sich im Zisterzienser-Graduale aus Wonnental bei Kenzingen im Breisgau (ehemaliges Zisterzienserinnenkloster) und stammt aus dem 14. Jahrhundert.

 

Das „S“ ist der Anfangsbuchstabe (Initiale) des Eingangsliedes zum Pfingstfest: Spiritus dominus replevit orbem terrarum = Der Geist des Herrn erfüllt den Erdkreis.

 

In Gestalt einer Taube senkt sich der Heilige Geist aus einer lichten Wolke auf eine betende Menschengruppe herab. Er schwebt nicht, sondern stürzt förmlich Kopf vor im Flug nach unten. Zwölf Strahlen gehen von ihm aus und verteilen sich auf Maria und die Apostel.

 

Das mit Blüten und Ranken verzierte „S“ unterstreicht die Bewegung des Geistes vom Himmel auf die Erde. Wie die Linienführung des Buchstabens das ganze Bild erfüllt, so erfüllt der Geist Gottes die Menschen, die kaum fassen können, was ihnen und wie ihnen geschieht. Ihnen gehen die Augen über angesichts der Ereignisse, dessen Zeugen sie werden.

 

Zwei Ereignisse werden hier zusammengebracht:

Erstens: Die Jünger nach der Himmelfahrt des Herrn im Gebet versammelt.

Zweitens: Die Herabkunft bzw. Ausgießung des Heiligen Geistes.

 

Maria – im roten Mantel und mit weißem Schleier – sitzt aufrecht und die Hände gefaltet in der Mitte. Sie ist die zentrale Gestalt, auch ein wenig größer als die anderen und auch ein Stückchen von den anderen abgesetzt, die wiederum dicht beieinander stehen.

 

Der Maler lässt einige Apostel erstaunt auf die Feuerzungen auf dem Kopf der Mutter Jesu schauen, während sie selbst ebenso entflammt werden.

 

Maria scheint zu dem Apostel recht von ihr zu schauen. Dieser wiederum hat seinen Blick und die linke Hand auf sie gerichtet.

Es handelt sich um den Apostel Paulus, am Schwert, das er trägt, zu erkennen.

 

„Historisch“ betrachtet war er am Pfingsttag sicher nicht dabei.

Zunächst war er ja ein Feind Christi und ein Verfolger der Kirche. Seine Bekehrung wird in der Apostelgeschichte erst später berichtet.

 

Links von Maria aus gesehen ist Petrus dargestellt. Er hält einen übergroßen Schlüssel in der Hand. Petrus, der „Fels“, auf den Jesus seine Kirche bauen wollte und dem er die Schlüsselgewalt, die Vollmacht zu binden und zu lösen, übergeben hat (Mt 16, 18 - 19).

Rechts und links von Maria also die beiden Apostelfürsten.

Hinter ihnen – dicht gedrängt – die anderen Jünger, ebenfalls in gesammelter Gebetshaltung mit gefalteten Händen.

Die meisten von ihnen schauen zur Mitte und haben den Blick auf Maria gerichtet.

 

Zwei von ihnen – am rechten Bildrand – schauen überraschend und auffälligerweise nicht zur Mitte. Der eine – ganz rechts – schaut und deutet mit seiner linken Hand aus dem Bild heraus. Vielleicht ein Hinweis darauf, dass draußen schon „die Menge“ (Apg 2, 6) zusammenströmt, um das Wort der Apostel zu hören.

 

In der anderen Hand hält er ein goldenes Medaillon, worauf ein Adler abgebildet ist. Der Adler ist das Symbol des Evangelisten Johannes. Er weist hin auf die hohen Gedankenflüge des Evangelisten. Was sieht er? Was packt ihn? Was hat er vor?

Er scheint im „Aufbruch“ zu sein. Am Ostermorgen ist er zum Grab vorausgeeilt. Der Jünger hinter ihm beäugt ihn ganz verwundert.

 

Doch noch sind alle im „Obergemach“ (Apg 1, 13); hinter einer hohen, gelbleuchtenden Backsteinmauer, die unten und seitlich vom „S“ umrahmt ist. In der Mitte der Mauer ist ein Tor sichtbar. Die Torflügel sind (noch) geschlossen. Doch die verwandelnde Kraft des Geistes öffnet Türen und bringt in Bewegung.

Mauer und Tür könnten Jerusalem oder auch das Haus andeuten, in dessen „Obergemach“ sich die Jünger nach der Himmelfahrt des Herrn versammelt hatten.

Eine verschworene und doch verschlossene Gesellschaft.

Im nächsten Augenblick aber wird sie die „Kraft von oben“ anfeuern und zu Zeugen Jesu machen, „in Jerusalem, in ganz Judäa und Samaria und bis zu den Grenzen der Erde“ (Apg 1, 8).

 

Was auffällt: Die überwiegend jungen Gesichter. Eine junge, lebendige, geisterfüllte Kirche. Kein „Altherrenclub“!

 

Was noch auffällt: Die unterschiedlichen Farben der Gewänder.

Möglicherweise ein Hinweis darauf, dass die Apostel ganz unterschiedliche Persönlichkeiten sind mit je eigenen Fähigkeiten und Meinungen. Pfingsten hebt diese Unterschiedlichkeiten nicht auf, ermöglicht aber eine neue Einheit im Geist, eine Einheit in fruchtbarer Verschiedenheit.

 

Die Mauer und die verschlossene Tür könnten auch eine Anfrage an uns sein, ob wir uns öffnen für Gottes Geist, für seine überraschenden Möglichkeiten, wenn alles scheinbar erstarrt und unbeweglich erscheint – bei uns selbst, in unseren Gemeinden, in der Kirche und weltweit.

 

Wer sich vom Geist Gottes ergreifen lässt wie die Apostel, der wird „Feuer und Flamme“ für Gott und sein Reich.