Fünf Menschen und ein Hund
– eng zusammengepfercht – auf einem Gerüst – hoch über der
Stadt.
Irgendwann
in der Nacht sind sie hinaufgeklettert. Noch steht die
Mondsichel am Himmel. Über ihnen weht eine dürftige Fahne.
Der Wind bläst ihnen ins Gesicht.
Höher hinauf konnten sie
nicht. Sie drängen sich auf dem schwankenden Gestell. Die
Plattform ist schmal. Es droht die Gefahr des Abgleitens und
Abstürzens.
Was sind das für Menschen?
Was hat sie veranlasst, sich
dieser unbequemen Lage auszusetzen? Was hat sie in eine
solch schwankende Situation getrieben? Warum haben sie ihren
Alltag, ihr gesichertes Leben unten in der Stadt hinter sich
gelassen? Warum steigen sie aus, hinauf, jetzt, sofort?
Oder
war ihr Leben unten in der Stadt gar nicht so sicher? Sind
sie vielleicht geflohen vor einer Welle von Langeweile, vor
einer Flut von Unsicherheit, vor einem Meer von Angst, in
dem sie zu ertrinken drohten?
Vielleicht
haben sie Schlimmes mitgemacht. Vielleicht sind sie gerade
noch einmal davongekommen. In ihren großen weit
aufgerissenen Augen sind noch Spuren eines unheilvollen
Dunkels zu erkennen.
Allen diesen Menschen ist
etwas gemeinsam:
Sie schauen in eine Richtung.
Ihr Blick geht in die Ferne. Gespannt halten sie Ausschau.
Ahnen sie, dass etwas auf sie zukommt und wollen es
unbedingt erspähen, erkennen? – Ihre Haltung, ihre
Gesichter, die Augen, ihr ganzes Dasein drückt Erwartung
aus.
Welche Erwartung kann einen
aus dem Schlaf reißen, dass man sich sofort aufmacht,
hinaus, hinauf, um sehnsüchtig Ausschau zu halten?
Der Apostel Paulus schreibt
im Brief an die Römer:
„Begreift die Zeit, in der
ihr lebt: Jetzt ist die Stunde da, vom Schlafe aufzustehen.
Denn unser Heil ist nahe. Die Nacht ist vorgerückt, der Tag
ist nahe. Darum wollen wir uns abwenden vom Dunkel und das
Licht erwarten: Christus, den Herrn.“
Meditationsmusik
II.
Der Holzschnitt von Walter
Habdank hat den Titel: „In Erwartung“.
Ganz vorne dran
steht einer mit einem Fernglas. Fast fällt er vom Turm. Er
möchte genau sehen, klarer als mit bloßen Augen, näher als
in Wirklichkeit.
Doch er schaut auch neben dem Glas vorbei, will vielleicht
das Ganze sehen, nicht nur den Ausschnitt, den das Fernglas
zeigt.
Hinten steht einer
und hält sich mit beiden Händen fest. Er beugt sich nach
vorne, streckt sich dem entgegen, was er erwartet.
Zwischendrin
lugt einer hervor. Er deutet mit dem Finger in die Ferne und
öffnet ein wenig den Mund. Er beugt sich zu seinem Nachbarn
und flüstert ihm etwas zu. Auf was zeigt er? Was sieht er?
Am Rand
steht einer, der sichert sich mit der einen Hand, mit der
anderen hält er schützend die Frau. Oder hält er sich an ihr
fest?
Die Frau
hat sich am Rand hingesetzt. Sie hält sich nicht fest. Sie
hebt ihre Arme hoch. – Greift sie sich an den Kopf? Oder hat
sie die Hände – angestrengt lauschend – an die Ohren gelegt,
um besser zu hören?
Sie alle
blicken nach vorn, schauen hinaus, in die Ferne. Gemeinsam
halten sie Ausschau.
Vom Hund
ist nur der Kopf zu sehen. Auch er spitzt die Ohren und
schaut und lauscht. Die ganze Schöpfung wartet, dass Gottes
Herrlichkeit vernehmbar werde. Wenn Gott unsere Erwartungen
erfüllt, geschieht das überreich. Dann gibt es Hoffnung auch
für den letzten armen Hund.
Mit Psalm 119 können wir beten:
„Herr, nach deiner Hilfe
sehnt sich meine Seele; ich warte auf dein Wort. – Meine
Augen sehnen sich nach deiner Verheißung. Wann wirst du
kommen und mich trösten?“
Meditationsmusik
III.
Wer sind die Menschen in Erwartung,
die Walter Habdank darstellt?
Sind wir es vielleicht
selbst? Wir, du und ich? Natürlich sehen wir hier nicht
besonders gut aus. Keine sportlichen Erscheinungen sind wir,
nicht elegant gekleidet. Unvollkommen sind wir, brüchig, aus
dem Lot geraten, gewissermaßen ausgesetzt, zusammengezwängt,
bedroht von der Unsicherheit und vom Absturz.
-
Die Welt unter uns scheint zu wanken.
Kriege und Naturkatastrophen, Hunger und Seuchen. (Seit
einigen Monaten und immer noch die Corona-Pandemie!)
Ganz zu schweigen von der drohenden Klima-Katastrophe!
Dazu Not und Armut, Ungerechtigkeit, Habgier und
Egoismus. Ein Teufelskreis von Angst und Verzweiflung,
Ratlosigkeit und Mutlosigkeit. Alles das und noch vieles
mehr lässt – wie auf einem Gerüst – den Boden unter
unseren Füßen wanken.
-
Der Ruf der Kirche und vieler
Christ-Gläubigen ist in den vergangenen Jahren schwer
beschädigt worden. Ein riesiger
Glaubwürdigkeits-Verlust! Kirche ist nicht mehr das „Haus voll Glorie“,
„aus ewigem Stein erbauet“ und
auf festem Grund stehend. Da ist vieles unsicher
geworden. Die Zukunft liegt im Dunkeln. Wir können nur
rufen: „In Drangsal mach uns
frei und steh im Kampf uns bei!“
-
Und so manchem Zeit-Geist geht es nicht
mehr um christliche Werte. Die Säkularisierung schreitet
fort. Immer stärkere Ent-Christlichung der Gesellschaft.
Beliebigkeit, Relativismus, Gleich-Gültigkeit bläst uns
wie ein scharfer Wind ins Gesicht.
-
Wir leben in unruhigen Zeiten. Vieles ist
nicht mehr im Gleichgewicht. Wir sind aus dem Lot
geraten. Scheinbar Felsenfestes ist brüchig geworden.
Die Situation ist unsicher und bedrohlich. Wir finden
uns gefangen im wackligen Gerüst einer brodelnden Welt.
So stehen wir da,
in einer unbequemen, einer beunruhigenden Lage, in einer
unheilvollen Welt.
Wo ist Hoffnung? Wo Rettung?
Wer bringt uns Hilfe?
„Wo bleibst du Trost der ganzen Welt?“
Meditationsmusik
IV
Das ist die eine Seite.
Aber es wird noch etwas anderes deutlich, nämlich eine
Ähnlichkeit dieser Figuren mit Hoffnungsgestalten der Bibel.
-
Da ist Noach, der aus der Arche
hinausblickt, um die Rückkehr der Taube mit dem Ölblatt
zu erwarten. Endlich Land sehen! Endlich wieder Boden
unter den Füßen haben!
-
Da ist Mose, der mit erhobenen
Händen fleht, dass Gott da bleibe, dass er die Seinen im
Kampf stärke, sie stütze. Nur die Hände nicht sinken
lassen! Beten! Glauben! Vertrauen!
-
Auch Jona ist dabei, der – dem
Fischleib entronnen – aus dem wackeligen Gestell
hinausweist und hofft und ruft. Ob wir – wie die
Bewohner von Ninive – den Umkehrruf hören und ihm
folgen?
-
Da ist der Zöllner Zachäus
gleichsam im Gezweig des Baumes. Sein Anliegen: Jesus
sehen, den Messias, den Erlöser! Das Heil der Welt
erblicken!
-
Und da ist die Sünderin, die sich
dem Herrn zuwendet und ihm mit ihren Haaren seine Füße
trocknet. Ihr Glaube rettet sie.
Hoffende, sich sehnende
Menschen, Erwartende.
Sie warten auf Hilfe, wo sie
sich selbst nicht mehr helfen können. Sie warten auf Heil
und Erlösung.
Menschen in Erwartung!
Menschen im Advent!
Ausgerichtet auf das Neue,
das ihre Situation verändern, ihr Leben verwandeln kann.
Menschen im Advent! Menschen
in Erwartung!
Bin ich einer davon?
Adventliche Menschen
sind Menschen,
-
die heraussteigen aus ihrem Alltag, um
Weitblick und Klarsicht zu gewinnen.
-
die Ausschau halten nach Neuem und bereit
sind, sich verändern zu lassen
-
die weit offen sind für das, was man noch
nicht sehen und greifen kann,
-
die ausharren in unbequemer Lage, um ihr
Heil nicht zu verschlafen,
-
die hellwach sind und sehnsüchtig eine
lichte Zukunft erwarten.
Bin ich einer von ihnen, ein
adventlicher Mensch?
Auf was warte ich? Warte ich
überhaupt auf etwas?
Habe ich noch Erwartungen an
mein Leben?
Wonach sehne ich mich?
Meditationsmusik
Ein Wort von Roger Schutz
lautet:
„Advent ist zunächst Warten, Erwarten. Das
heißt, Tag für Tag in sich das Maranatha, das „Komme, Herr!“
aufsteigen lassen. Komm für die Menschen! Komm für uns alle!
Komm für mich selbst!
– kurze Stille –
Mit Psalm 130 können wir
beten:
„Ich warte auf den Herrn
mehr als die Wächter auf den
Morgen.
Mehr als die Wächter auf den
Morgen
harrt meine Seele auf den
Herrn.
Auf ihn allein warte ich.
Von ihm kommt mir Hilfe.
Von ihm kommt mir Hoffnung.
Bei ihm ist Erlösung in
Fülle.“ |