„Wer angibt, hat mehr vom Leben.“
Kennen
Sie diese Redewendung?
Es gibt
viele Situationen, in denen sich Menschen nach diesem Motto verhalten.
Nicht nur am Stammtisch, auch bei Klassentreffen, bei
Wahlveranstaltungen, bei Familientreffen, Vorstellungsrunden oder im
Kollegenkreis. Auch sonst wird gerne dick aufgetragen. Die eigene
Leistung und der Erfolg werden hervorgehoben. Schauen wir nur in die
Politik! Da sehen wir das fast jeden Tag.
Immer
geht es ums Image, um Ehre, Prestige und Anerkennung. Immer geht es
darum, Eindruck zu machen, groß herauszukommen und gut dazustehen, sich
ins rechte Licht rücken. Mehr scheinen als sein.
Schwächen, Scheitern, Niederlagen und Enttäuschungen werden versteckt
oder gekonnt überspielt.
„Wer angibt, hat mehr vom Leben.“
In der
Gemeinde von Korinth gab es offensichtlich auch „Angeber“: Leute, die
sich wichtig machten, Leute, die sich etwas einbildeten auf ihre
Herkunft, ihren Einsatz in der Gemeinde, ihre Begabungen, Leute, die
sich ihrer geistlichen Erfahrungen und mystischen Erlebnisse rühmten.
Gleichzeitig versuchten sie, Paulus, den Gründer der Gemeinde, in seiner
Abwesenheit verächtlich zu machen, ihn in Misskredit zu bringen, seine
Autorität zu untergraben. Paulus nennt diese Leute, die ihn anfeinden „falsche Apostel“ oder auch ironisch
„Über-Apostel“, „Super-Apostel“.
Eigentlich ist Angeben kindisch, lächerlich und abstoßend.
Auch
Paulus ist Selbstlob und Angeberei zuwider. Aber in seinem zweiten Brief
an die Korinther (2 Kor 12, 7 - 10), da fühlt Paulus sich gezwungen,
dieses dumme Spiel, diese Prahlerei und Narretei einmal mitzumachen. Und
er kann gut mithalten. Er hat eine ganze Menge vorzuweisen:
„Sie
sind Hebräer – ich auch. Sie sind Israeliten – ich auch. Sie sind
Nachkommen Abrahams – ich auch. Sie sind Diener Christi – jetzt rede ich
ganz unvernünftig – ich noch mehr.“
Dann fährt er fort:
„Ich ertrug mehr Mühsal,
war häufiger im Gefängnis, wurde mehr geschlagen, war oft in
Todesgefahr. Fünfmal erhielt ich von Juden die neununddreißig Hiebe,
dreimal wurde ich ausgepeitscht, einmal gesteinigt, dreimal erlitt ich
Schiffbruch, eine Nacht und einen Tag trieb ich auf hoher See.“
Das
ist nicht alles. Paulus schreibt weiter: "Auf
Reisen, gefährdet durch Flüsse, gefährdet durch Räuber, gefährdet durch
das eigene Volk, gefährdet durch Heiden, gefährdet in der Stadt,
gefährdet in der Wüste, gefährdet auf dem Meer, gefährdet durch falsche
Brüder.
Ich
erduldete Mühsal und Plage, durchwachte viele Nächte, ertrug Hunger und
Durst, häufiges Fasten, Kälte und Blöße.
Um von
allem anderen zu schweigen, weise ich noch auf den täglichen Andrang zu
mir und die Sorgen für alle Gemeinden hin.“
Und dann
erzählt Paulus noch ausführlich von einer Vision, die ihn bis in den
dritten Himmel geführt und ins Paradies entrückt hat. Ein gewaltiges und
überaus freudvolles Erlebnis, das sich sehen lassen kann und alle
vergleichbaren Visionen und Offenbarungen in den Schatten stellt.
Aber
genau an der Stelle, liebe Mitchristen, erfolgt ein Umschwung.
Paulus wird still und nachdenklich. Er schreibt:
„Damit ich mich der einzigartigen Offenbarungen nicht
überhebe, wurde mir ein Stachel ins Fleisch gestoßen: ein Bote Satans,
der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe.“
Man hat
oft gerätselt, was es mit diesem „Stachel im Fleisch“, diesem „Boten Satans“, auf sich hat, der Paulus wie mit Fäusten schlägt.
War
Paulus chronisch krank? Hatte er ein Augenleiden? Litt er an Migräne,
Epilepsie, Nierenkoliken, an Depressionen oder sonst etwas? – Wir wissen
es nicht. Im Grunde kann man nur darüber spekulieren.
Auf jeden
Fall „Stachel“ bzw. „Pfahl im Fleisch“, „Satansbote“,
„Faustschläge“, all das deutet darauf hin, dass es sich nicht um
eine Kleinigkeit gehandelt hat, sondern etwas ganz Gravierendes, ein
schlimmes und schmerzhaftes Übel, mit dem er wohl schon lange zu kämpfen
hatte.
Ich
denke, es ist gar nicht so wichtig, genau zu wissen, was dem Apostel so
schrecklich zugesetzt hat, was ihn so teuflisch gepiesackt, gequält und
beeinträchtigt hat. Ich finde es viel wichtiger und spannender zu sehen,
wie Paulus darauf reagiert hat, wie er damit umgegangen ist und damit
fertig wurde.
Wir haben
es in der Lesung gehört: Paulus ruft Gott um Hilfe an. Er betet
inständig und beharrlich. Er bittet Gott, diese teuflische Sache, diese
Last und Qual, von ihm zu nehmen.
Aber
Paulus findet keine Erhörung, keine Erlösung, keine Heilung.
Er wird
diesen Stachel nicht los. Der Satansbote drangsaliert ihn weiter. Welch
eine Enttäuschung! Paulus bleibt ein Angefochtener.
Geht es
uns nicht auch oft wie Paulus? Wir bitten Gott inständig in Angst und
Not, in Sorgen und Leid. Aber wir werden anscheinend nicht erhört,
jedenfalls nicht so wie wir es uns wünschen.
Paulus
erkennt, wofür in seinem Fall der Stachel gut ist, wofür er da ist und
was er soll: Zweimal sagt er: „Damit ich mich nicht überhebe.“
Damit ich
nicht abhebe, damit ich nicht stolz und hochmütig werde, damit ich auf
dem Teppich bleibe, realistisch, geerdet, demütig.
Dann bekommt Paulus eine Antwort, die auch für uns hilfreich und
wegweisend sein kann. Sie lautet: „Meine Gnade
genügt dir; denn sie erweist ihre Kraft in der Schwachheit.“
Dass die
Gnade Gottes genügt, hat Paulus immer wieder erfahren.
Er hat
erfahren, dass Gott ihm in seiner Schwachheit beisteht. Er hat erfahren,
dass seine Schwachheit sich in Kraft verwandelt hat, in Mitgefühl,
Rücksicht, Freundlichkeit, Güte, Barmherzigkeit.
Dass die
Gnade genügt, darauf dürfen auch wir hoffen und vertrauen, liebe
Schwestern und Brüder!
Allerdings, Gott hilft uns nicht immer, so wie wir wollen. Er befreit
uns nicht auf jeden Fall von Mühsal und Angst, von unseren Nöten und
Sorgen. Auch wer glaubt, gehört nicht automatisch zu den Gewinnern und
Siegern. Gott bewahrt nicht vor allem Leid, aber in allem
Leid. Gott sieht weiter. Er weiß, was für uns gut ist. Er schenkt seine
Kraft, seine Gnade, seine Gegenwart.
Paulus
hat sich gesträubt gegen den „Stachel im Fleisch“. Er wollte ihn
weghaben. Das ist ganz natürlich. Das darf auch sein.
Wir
dürfen klagen, fragen, zweifeln, hadern. Die Mehrzahl der Psalmen sind
Klagepsalmen. Auch Jesus hat am Ölberg unter Tränen und Blutschweiß
gebetet: „Vater, nimm diesen Kelch von mir!
Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst.“
Sehen
Sie: Dazu findet am Schluss auch Paulus. Er schreibt:
„Ich
bejahe meine Ohnmacht, alle Misshandlungen und Nöte, Verfolgungen und
Ängste, die ich für Christus trage.“
Paulus
hat gelernt, anzunehmen, was nicht zu ändern ist. Er hat dahin gefunden,
den Stachel im Fleisch zu akzeptieren und zum Unvermeidlichen ja zu
sagen. Leicht war’s sicher nicht. Es ist ein langer und schmerzhafter
Lernprozess.
Aber weil
Paulus Ja-Sagen konnte, deshalb hat dieser Stachel in ihm keine
Bitterkeit erzeugt. Groll, Bitterkeit, Unzufriedenheit wie wir es oft
bei Menschen erleben, die ihr Schicksal nicht annehmen können.
Paulus
hat den inneren Frieden gefunden.
Was dem
Apostel wohl auch geholfen hat, zum unvermeidlich Schweren ja zu sagen,
sind die Worte „für Christus“.
„Ich
bejahe meine Ohnmacht, alle Misshandlungen und Nöte, Verfolgungen und
Ängste, die ich für Christus trage.“
Paulus
weiß, dass all sein Leiden, ein Leiden mit und für Christus ist, in
seinem Dienst, in seiner Kraft. Er opfert sein Leiden sozusagen auf. „Jesus, alles dir zulieb“.
„Alles meinem Gott zu Ehren.“ „Auf dass in
allem Gott verherrlicht werde.“ Alles aus Liebe zu Gott.
Das
motiviert. Das gibt Sinn. Nicht mehr „Warum“, sondern „Wofür“. Wer ein Wofür zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.
Liebe
Schwestern und Brüder!
Wer
angibt, hat nicht mehr vom Leben. „Eigenlob
stinkt.“
Wer ja
sagen kann, wer Glück und Unglück, Freude und Leid annehmen kann, der
hat mehr vom Leben, dessen Leben gelingt. Wer ja sagen kann, dessen
Leben bekommt Sinn und Ziel.
Zum
Thema „Kraft in der Schwachheit“ bzw. „wenn ich schwach bin,
dann bin ich stark“ habe ich eine schöne Geschichte gefunden. Sie
stammt aus China und trägt die Überschrift „Der
Sprung in der Schüssel“:
Es war
einmal eine alte chinesische Frau, die zwei große Schüsseln hatte, die
von den Enden einer Stange hingen, die sie über ihren Schultern trug.
Eine der Schüsseln hatte einen Sprung, während die andere makellos war
und stets eine volle Portion Wasser fasste.
Am Ende der langen Wanderung vom Fluss zum Haus der alten Frau war die
andere Schüssel jedoch immer nur noch halb voll.
Zwei Jahre lang geschah dies täglich: die alte Frau brachte immer nur
anderthalb Schüsseln Wasser mit nach Hause.
Die makellose Schüssel war natürlich sehr stolz auf ihre Leistung, aber
die arme Schüssel mit dem Sprung schämte sich wegen ihres Makels und war
betrübt, dass sie nur die Hälfte dessen verrichten konnte, wofür sie
gemacht worden war.
Nach zwei Jahren, die ihr wie ein endloses Versagen vorkamen, sprach die
Schüssel zu der alten Frau:
"Ich schäme mich so wegen meines Sprungs, aus
dem den ganzen Weg zu deinem Haus immer Wasser läuft."
Die alte Frau lächelte.
"Ist dir aufgefallen, dass auf deiner Seite des
Weges Blumen blühen, aber auf der Seite der anderen Schüssel nicht?"
"Ich habe auf deiner Seite des Pfades Blumensamen gesät, weil ich mir
deines Fehlers bewusst war. Nun gießt du sie jeden Tag, wenn wir nach
Hause laufen. Zwei Jahre lang konnte ich diese wunderschönen Blumen
pflücken und den Tisch damit schmücken. Wenn du nicht genauso wärst, wie
du bist, würde diese Schönheit nicht existieren und unser Haus beehren."
Jede und
jeder von uns hat seinen je eigenen „Dorn“ oder „Stachel“.
Jeder hat
seine Macken, Fehler und Schwächen. Manchmal wären wir sie gerne los.
Manchmal schämen wir uns ihrer.
Wir wären
gerne kraftvoll, stark, perfekt, makellos. Fitness und Wellness soll
dazu verhelfen. Und doch kann auch aus einer Schwäche Segen strömen.
Eine Behinderung kann stark machen. Ohnmacht kann sich in Kraft
verwandeln. Eine Krise kann wachsen und reifen lassen. Die Liturgie der
Osternacht nennt die Sünde Adams „glückliche Schuld“.
Sind es
nicht genau unsere Schwächen, Fehler und Macken, die uns einzigartig und
unser Leben so interessant und lohnenswert machen?
Es gilt,
sich selbst anzunehmen, zu sich selbst ja zu sagen, auch zu den Brüchen
und Rissen, den Dornen und Stacheln.
Und es
gilt zum anderen ja zu sagen, ihn anzunehmen wie er ist, Geduld zu
haben, das Gute in ihm zu sehen und zu versuchen, ihn zu lieben wie sich
selbst.
Über all
dem steht ein großes Ja, das Ja Gottes zu jedem Menschen.
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