Eine Begebenheit
Ein junges Ehepaar schlendert über die
Kirmes. Sie kommen zu einem Stand, wo Lose verkauft werden. Viele Leute
stehen herum. Die beiden kaufen zwei Lose. Hauptgewinn ein Sportauto.
Wär doch schön, wenn wir so ein tolles Auto hätten, denken sie. Er
öffnet sein Los: Nichts! Sie öffnet: Auch nichts – Umsonst!
Umsonst! – Das gilt für alle haufenweise
auf dem Boden liegenden Lose, die zuvor schon gekauft, geöffnet und dann
weggeworfen wurden.
Ist dieser Loskauf nicht ein Bild für die
vielen Umsonst-Erfahrungen, die wir im Leben schon gemacht haben?
Nehmen wir aber an, das junge Ehepaar
hätte Glück gehabt und hätte für zwei Euro tatsächlich ein Auto
gewonnen. Sie hätten gejubelt, hätten Freunde und Verwandte angerufen
und gesagt:
Wir haben ein Auto bekommen, stellt euch
vor, ganz umsonst. Hauptgewinn beim Losverkauf.
Es gibt zwei Arten von
Umsonst-Erfahrungen.
Die eine, die Enttäuschung bedeutet,
Verzicht und Leere bringt, vielleicht sogar Verzweiflung schafft. –
Diese Art von Umsonst sind Erfahrungen, bei denen wir auf der
Verliererseite stehen.
Wir haben investiert, wir haben gehofft,
wir haben vielleicht viel und großes erwartet, aber es war nichts.
Vergeblich. Umsonst.
Lateinisch heißt dieses Umsonst „frustra“.
Unser Wort Frustration bzw. Frust kommt daher, sich frustriert fühlen,
enttäuscht sein, niedergeschlagen, traurig.
Bei den anderen Erfahrungen des Umsonst
bin ich der Beschenkte.
Ich habe nichts riskiert, nichts
investiert, nichts gegeben, nichts geleistet. Umsonst habe ich etwas
bekommen. Einfach so. Es ist mir gleichsam in den Schoß gefallen,
zugefallen. Es ist mir geschenkt, gegeben worden.
Im Lateinischen heißt dieses Umsonst
„gratis“. Das Wort „gratia“ steckt darin, Gnade.
Umsonst-Erfahrungen, die uns zum
Verlierer machen
Unter diesen Umsonst-Erfahrungen gibt es
ganz alltägliche.
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Ich war umsonst beim Bäcker. Es gab keine Brötchen
mehr.
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Sie hat für die Abiturprüfung viel gelernt, hat sich
angestrengt – und hat trotzdem nicht bestanden. Alle Mühe war
umsonst.
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Eine Frau macht mit 40 noch den Führerschein. Sie
sagt: jetzt habe ich so viel gebetet. Umsonst. Trotzdem bin ich
durchgefallen.
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Der Sohn musste den Führerschein abgeben. Alkohol am
Steuer. Die Mutter sagt: Wie oft habe ich ihn ermahnt, er soll das
Auto stehen lassen, wenn er zuviel getrunken hat. Umsonst habe ich
ihn gewarnt.
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Ich habe umsonst geputzt. Schon wieder ist alles
schmutzig.
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Ich bin umsonst zum Bahnhof. Der Besuch kam nicht.
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Ich habe umsonst gewartet. Das Flugzeug ist nicht
gestartet.
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Ich habe umsonst geläutet. Es hat niemand geöffnet.
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Jobsuche. Zig Bewerbungen geschrieben. Umsonst.
Umsonst heißt hier „vergeblich“ „für
nichts und wieder nichts“, „alles für die Katz“, vergebliche Liebesmühe
„außer Spesen nichts gewesen“.
Außer den alltäglichen
Umsonst-Erfahrungen gibt es auch solche, die unser Leben einschneidend
berühren.
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Eine Bank macht pleite. Ein älteres Ehepaar verliert
ohne Ersatz 300.000 Euro. Sie sagen: Wir haben umsonst gespart,
umsonst auf Ferienreisen verzichtet, auf die schönere Wohnung.
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Ein anderer, nicht ich bekommt die Stelle im Betrieb.
Er wird befördert. Ich habe umsonst geschuftet, umsonst Überstunden
gemacht, für Vitamin B, Partys, Geschenke usw. umsonst eine Menge
Geld ausgegeben.
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Jemand ist krank. Er geht zu diesem Arzt, zu jenem
Doktor, zum Heilpraktiker, macht diese Kur, kauft jene Arznei. Es
nützt nichts. Umsonst.
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Ein Sohn verunglückt mit dem Auto. Tot auf der
Stelle. Die Eltern sagen: Umsonst habe wir gepredigt, fahr nicht so
schnell, umsonst haben wir für ihn sein Studium finanziert.
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Eine Tochter heiratet. Es geht schief. Schon nach
einem Jahr. Alles reden der Eltern und der Freunde war umsonst.
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Ein Mann arbeitet seit vielen Jahren an einem Patent.
Abende, Nächte, Wochenende, jede freie Sunde verwendet er darauf.
Endlich ist es soweit. Er meldet das Patent an. Der Bescheid kommt
zurück: Vor einem Monat hat einer dasselbe Modell eingereicht.
Umsonst!
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Bei einer OP setzen die Ärzte alles ein: All ihre
Erfahrung, ihre ganze ärztliche Kunst, alle zur Verfügung stehenden
Mittel. Der Puls wird weniger und weniger. Die Frau stirbt trotzdem.
Alle Mühe umsonst!
Es gibt Situationen in unserem Leben, wo
wir uns total hilflos fühlen, den Umständen ausgeliefert, Ereignisse,
die uns die Sprache verschlagen, wo wir unsere ganze Ohnmacht erfahren
und nichts ändern können.
In solchen Situationen klagen wir: es war
alles umsonst. Oder hätte ich doch… Oder hätte ich doch nicht. Aber
alles „hätte“ und „wenn“ nützt nichts mehr. – Oder wir sagen: womit habe
ich das verdient? Warum ich?
Wir sprechen dann auf unsere Weise wie
der Psalmist:
„Umsonst habe ich mein Herz rein gehalten“
(Ps 73, 13).
Oder mit dem Propheten Jesaja:
„Vergeblich habe ich mich abgemüht, meine Kraft umsonst und nutzlos
vertan“ (49, 4).
Aber auch die Umsonst-Erfahrungen des
Verlierens müssen nicht nur negativ sein. Sie können uns etwas Wichtiges
und Wesentliches über unser Leben sagen, uns unterweisen.
Eine Krankheit kann eine Lehrmeisterin
sein. Stunden am Sterbebett können uns viel lehren.
Was lehren uns die Umsonst-Erfahrungen
des Verlierens?
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Wir werden einsichtig, dass sich das Leben nicht in
allen Dingen von uns zwingen lässt
-
Wir werden der Tatsache ansichtig, dass wir nicht
alles machen, kaufen, absichern, organisieren, managen, herstellen
und erleisten können.
-
Wir gewinnen Einsicht in unsere Grenzen und in unsere
Abhängigkeit.
-
Wir erfahren, dass es Dinge gibt, die sich unserem
Zugriff entziehen.
Letztlich sehen wir uns vor das Leben als
Geheimnis gestellt, das trotz allem technischen Fortschritt und trotz
aller Wissenschaft ein solches bleibt: abgrundtief, rätselhaft. Auf
vieles gibt es keine Antwort.
Aber nicht alle negativen
Umsonst-Erfahrungen bedeuten schon ein totales Umsonst. In vielen Fällen
liegt es auch an uns, wenn wir meinen, es sei alles umsonst, alles
vergeblich gewesen.
Das junge Mädchen, das eine Lehre gemacht
hat, dann aber vom Betrieb doch nicht übernommen wird, hat es nicht
dennoch viel dazu gelernt? Haben die Lehrjahre nicht dennoch einen Sinn
gehabt?
Selbst die vergebliche Reise in eine
andere Stadt, deren Absicht sich nicht erfüllte, war sie nicht dennoch
etwas wert? Hätte sich nicht sogar zu einer schönen Sache werden können,
wenn man nicht ausschließlich und nur auf den Zweck fixiert gewesen
wäre.
Vielleicht sollten wir uns fragen,
wieviel wir im Leben versäumen, nicht erleben, nicht erfahren, weil wir
oft total auf etwas festgelegt sind und so wenig frei sind und den Blick
haben für anderes, um z. B. das wahrzunehmen, was auf dem Weg zum Ziel
hin an Schönem zu sehen ist oder sich an Gutem ereignet.
Oder eine Wanderung in den Bergen. Doch
das Wetter war wider Erwarten schlecht. Nur Nebel, keine Sicht, kein
Rundumblick, kein Gipfelpanorama. Aber die Stimmung war trotzdem gut.
Man ist sich wieder einmal begegnet, konnte erzählen, ist eingekehrt. Es
war gesellig, ja sogar lustig. Man hat das Beste daraus gemacht. Es war
trotzdem ein schöner Tag.
Manche Umsonst-Erfahrung wäre weniger
gravierend, weniger einschneidend, nicht so total und ausschließlich
negativ, wenn wir bei allen Enttäuschungen und Traurigkeiten doch noch
das Positive, Schöne und Gute wahrnehmen könnten. Oft stellt sich
allerdings erst hinterher heraus, für was etwas gut war und wohin einem
ein Krankheit, ein Unglück oder Leid einen gebracht hat.
Umsonst-Erfahrungen, die uns zum
Beschenkten machen.
Auch sie können ein ganz alltägliches
Gesicht haben.
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Jemand grüßt mich und zeigt mir seine
Sympathie – umsonst.
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Jemand schickt mir Blumen – einfach so.
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Jemand hilft mir bei einer Sache –
umsonst, nur weil er’s gern tut.
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Jemand merkt, dass ich’s eilig habe und
lässt mich an der Kasse vor.
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Ein Autofahrer gibt mir Vorfahrt.
Umsonst.
Aber es gibt auch das
Umsonst-Beschenktsein in den wichtigsten Bereichen unseres Lebens.
Dass ein Mensch mich liebt, dass ich
durch ihn erfahre, ich darf so sein wie ich bin. Diese Liebe kann ich
mir nicht verdienen, durch nichts erringen, ich kann sie mir nur
schenken lassen.
„Mögen wir uns auch noch so anstrengen und noch so viel
leisten: werben, Briefe schreiben, Blumen schicken, telefonieren,
bitten, betteln, uns erniedrigen – das alles nützt gar nichts. Entweder
leibt der andere uns, unabhängig von unserer Leistung und Tat, oder er
liebt uns nicht trotz unserer Leistung und Tat“.
(Heinz Zahrnt)
Dass ich gerade Glieder habe, geistig und
seelisch gesund bin, dass meine Organe funktionieren, dass ich gehen,
essen, arbeiten und schlafen, dass ich sehen, hören, reden und schmecken
kann. – Das alles habe ich umsonst, das alles ist nicht meine Tat. Das
alles ist nicht mein Verdienst oder Werk.
Dass ich angenommen und akzeptiert bin.
Ich habe es umsonst.
Das Leben habe ich umsonst, mein Leben.
Dass ich mich freuen kann am Leben, habe ich umsonst.
Dass ich mich entscheiden kann, dass ich
mich selbst bestimmen kann, habe ich umsonst, dass ich denken kann, habe
ich umsonst.
Nur wenn wir das Gegenteil von all dem
erfahren und erleben, wird uns das Umsonst unseres Lebens als
Beschenktsein bewusst.
Zum Beispiel wenn wir Körper- oder
Geistigbehinderten begegnen, oder Kranken. Oder wenn wir jemanden
Sterben sehen, denken wir vielleicht, dass wir leben dürfen.
Was lehren uns die Umsonst-Erfahrungen
des Beschenktwerdens?
So wie die Umsonst-Erfahrungen des
Verlierens uns einweisen in wichtige Aspekte des Lebens, in gleicher
Weise geschieht dies auch durch die Umsonst-Erfahrungen des
Beschenktseins.
Wir erfahren durch sie ebenso den
Geheimnischarakter des Lebens.
Wir existieren aus Gnade, als Gnade, als
Geschenk. Wir verdanken uns.
Die Umsonst-Erfahrungen des
Beschenktseins wollen uns das Danken lehren. Wer dankt, denkt über sich
hinaus, lebt über sich hinaus.
Aber oft vergessen wir das Danken, weil
wir das Leben als Geschenk, die Freude als Geschenk, die Liebe als
Geschenk, die Kinder als Geschenk, die Eltern als Geschenk, die Arbeit
als Geschenk nicht sehen. Alles ist eingeebnet im Bewusstsein größter
Selbstverständlichkeit und vielleicht auch der Selbstleistung: Man hat
es zu was gebracht: Haus, Beruf, Familie. Man stellt seinen Mann, seine
Frau. Man schreibt alles sich selber zu. Man hat nichts zu verdanken.
Weil Menschsein Verdankt-Sein ist und
menschliches Leben verdankte Existenz, hat das Umsonst auch die andere
Seite – das Verlieren. Wir wüssten sonst nichts von unserem
Verdankt-Sein. Wir fühlten uns wie Götter.
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