EVANGELIUM
Ich sage euch: Leistet
dem, der euch Böses antut, keinen Widerstand
+ Aus
dem heiligen Evangelium nach Matthäus
In jener Zeit sprach Jesus
zu seinen Jüngern:
38Ihr
habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn.
39Ich
aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen
Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann
halt ihm auch die andere hin.
40Und
wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen,
dann lass ihm auch den Mantel.
41Und
wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei
mit ihm.
42Wer
dich bittet, dem gib, und wer von dir borgen will, den weise nicht ab.
Ein provozierendes
Evangelium, schwer zu verdauen.
Kann Jesus das allen
Ernstes fordern?
„Wenn dich jemand
auf die rechte Wange schlägt, dann halte auch die andere hin.“ –
Wird da nicht dem Bösen Tür und Tor geöffnet? Kann da das Unrecht nicht
geradezu Triumphe feiern?
„Wenn dich jemand
auf die rechte Wange schlägt, dann halte auch die andere hin.“
Steht das nicht gegen alle
Erfahrung in Politik und Wirtschaft? Steht das nicht gegen alle
Erfahrung auch im privaten Bereich?
Überall zählt doch Stärke,
Gewalt, Überlegenheit.
Überall wird mit harten
Bandagen gekämpft.
Kann die Welt überhaupt
anders in Ordnung gehalten werden?
Jesus zeigt die
Alternative: Gewaltverzicht. Sie ist ein Herzstück seiner
Verkündigung. Jesus durchbricht den Mechanismus der Vergeltung.
Er schlägt einen Keil in den Teufelskreis von Rache und Hass. Er hebt
das Freund-Feind-Schema aus den Angeln.
Gewaltverzicht im
Sinne Jesu ist jedoch nicht mit Passivität gleichzusetzen.
Gewaltverzicht im Sinne Jesu ist mehr als Verzicht auf Widerstand.
Jesus sagt nicht:
Wenn dich jemand schlägt, dann steck’s halt ein! Er sagt auch nicht:
Ertrag’s in Geduld! Opfere es auf!
Jesus plädiert nicht
dafür, sich rein passiv zu verhalten.
Und schon gar nicht
verkündet er eine Moral für Duckmäuser und Feiglinge.
Er sagt ja eben nicht:
„Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt…“, dann nimm’s hin,
sondern „dann halte auch die andere hin!“ Geh zwei Meilen mit!
Gib zum Mantel auch das Hemd!
Werde aktiv! Lass dir was
einfallen! Tu das Überraschende!
Jesus sagt nicht
nur ein eindeutiges „Nein“ zur Gewalt, sondern fordert das
„Ja“ zum Frieden. Er ermuntert zu einem „Mehr“, zu einem „Darüber-Hinaus“,
zu einer ungewöhnlich neuen Initiative.
Das neue Verhalten, das
über das Bisherige hinausgeht, hat seinen Grund, liebe Schwestern und
Brüder. Welchen? Gott. Gott handelt so. „Er lässt seine Sonne
aufgehen über Guten und Bösen und lässt es regnen über Gerechten und
Ungerechten.“ Er ist gütig auch gegenüber den Undankbaren.
Sehen Sie: Die
Aufforderung zur Feindesliebe ist ganz tief im Glauben an Gott
begründet. Sie wurzelt in der Erfahrung, dass ich selbst ganz
ungeschuldet und unverdient von Gott geliebt bin.
Man kann nicht „Vater
unser“ beten und dabei die Faust in der Tasche geballt haben.
Vielmehr gilt: „Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig
ist!“
Kann man nach den
Weisungen der Bergpredigt leben?
Jesus hat es getan. Er
ließ sich von den Soldaten nicht nur den Mantel nehmen, sondern auch das
Hemd. Als er geschmäht wurde, schmähte er nicht, als er litt, drohte er
nicht. Er fluchte nicht seinen Henkern, er betete für sie. Er ging nicht
über Leichen, sondern gab sich selbst für andere hin. Er ging nicht nur
zwei Meilen mit. Er ging alle Meilen mit. Er ging ganz, ganz weit aus
Liebe, für uns! Er verschenkte sich, damit wir leben.
Gottes Liebe ruft
unsere Liebe.
-
Gut sein auch dort, wo
es nichts bringt.
-
Geben auch dort, wo
ich nichts zurückbekomme.
-
Freundlich sein auch
dort, wo mir jemand nicht so liegt.
-
Verzeihen auch dort,
wo ich nicht schuld bin.
-
Jemanden anrufen,
mailen, einen Brief schreiben, obwohl eigentlich der oder die andere
dran wäre, sich zu melden.
-
Die Nachbarin grüßen,
konsequent, immer wieder, auch wenn sie nicht grüßt.
-
Ich lasse mir doch
nicht von anderen deren Verhalten aufzwingen!
Das Böse durch das Gute
besiegen. Gar nicht leicht! Und es wird auch nicht immer gleich gut
gelingen. Kaum etwas kostet wohl so viel Überwindung, wie seinen Feind
zu lieben.
Wer aber Schritte in diese
Richtung tut, in der neuen Gangart des Lebens, der handelt schöpferisch.
Da geschieht Unerwartetes, etwas völlig Überraschendes, ja ganz und gar
Unerhörtes. Da entstehen neue Spielräume des Handelns. Da entsteht ein
neues Klima. Da erfahren wir eine ganz neue Freiheit.
Wie die Freiheit aussehen
kann und wie ein Mensch in dieser Freiheit handeln kann, wird deutlich
an einem Erlebnis, das Werner Bergengruen beschrieben hat:
„Auf meiner Flucht aus
Russland kam ich Ostern 1919 – nach Lebensmitteln suchend – in ein Dorf
bei Minsk. Eine alte Bäuerin sagte zu mir: „Ich habe einen Sohn in
deutscher Gefangenschaft, von dem ich nichts weiß. Ich werde jetzt
denken, du bist dieser Sohn. – Sie umarmte mich und beschenkte mich
reichlich.“
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