Wenn das Jahr zu Ende
geht, schaue ich mir gern noch mal meinen Kalender an und blättere
darin. Und wenn ich mir die Eintragungen so anschaue, die Termine, Orte
und Namen, dann werden Erinnerungen wach. Es kommt mir vieles in den
Sinn, was ich im vergangenen Jahr alles so erlebt und erfahren habe. Ich
sehe Menschen vor mir, mit denen ich zusammengelebt oder eine gewisse
Zeit verbracht habe, Menschen, denen ich begegnet bin. Lebensgeschichten
und Schicksale tauchen vor mir auf, schöne und schwierige Situationen
fallen mir ein. Ich denke an die Exerzitienkurse, die ich gehalten habe,
an Gespräche, die ich geführt habe, Arztbesuche. Meine
Urlaubserfahrungen in Garmisch-Partenkirchen und im Odenwald tauchen in
meiner Erinnerung wieder auf, aber auch Krisenzeiten, Krankheiten,
Geglücktes und Misslungenes, und, und, und …
Und dann taucht
unwillkürlich auch die Frage auf: Was mache ich mit all dem, was da
geschehen ist? Was mache ich mit diesem Jahr, das in wenigen Stunden zu
Ende geht? Was passiert ist, ist passiert. Ich kann es nicht mehr
rückgängig machen, ich kann nichts mehr ändern. Ich muss es so stehen
und gut sein lassen.
An dieser Stelle fällt mir
ein Bibelwort ein: „Kommt alle zu mir, die ihr müde und beladen seid.
Ich werde euch neue Kraft schenken.“ Mit diesem Wort lädt Jesus mich
ein, so wie ich bin und so wie ich mich fühle, zu ihm zu kommen und
alles, was ich habe zu ihm zu bringen, auch alles, was ich mit mir
herumschleppe, was das Jahr so mit sich gebracht hat, ihm zu geben, ihm
zu übergeben, es gleichsam in seine Hände zu legen. Ja, ich darf meinen
vollen Rucksack bei ihm abstellen.
Vieles war beschwerlich in
diesem Jahr. Auch das darf ich ablegen. Wenn ich den Rucksack ablege,
dann spüre ich eine große Erleichterung. Ich fühle mich frei, vielleicht
sogar ein Stück befreit. Ich kann aufrecht stehen. Die Last drückt nicht
mehr nach unten. Ich darf all die vielen guten und weniger guten
Erfahrungen und Erlebnisse Gott anvertrauen, sie in seine Hände legen.
Und das sind gute Hände und heilende Hände. Er nimmt alles an und
schenkt mir neue Kraft.
Um es in einem anderen
Bild zu sagen: Ich darf das Tor hinter mir zu machen und abschließen.
Einer hat es einmal so ausgedrückt: „Jeden Tag einen Punkt machen,
die Seite umblättern und neu anfangen. Wenn wir keinen Punkt machen,
sitzen wir hoffnungslos fest.“ Geben wir jeden Abend unser
vollgeschriebenes Blatt ab, so wie es ist. Legen wir es in die Hände
Gottes, dann können wir morgen neu anfangen.“ – Was hier im Blick
auf den Tag gesagt ist, dürfen wir auch übertragen und auf das ganze
Jahr beziehen. Wir dürfen einen Punkt machen und den vollgeschriebenen
Terminkalender Gott übergeben.
Vor uns liegt ein neues
Jahr. Das Tor ist geöffnet und wir können in die Ferne schauen. Vieles
liegt noch unberührt vor uns. Allerdings, ganz unbeschrieben ist mein
neuer Terminkalender nicht. Einiges ist schon eingetragen. Und doch: So
wie jeder Tag ein neuer Anfang ist, so ist auch jedes neue Jahr ein
neuer Anfang, der uns von Gott geschenkt ist.
Der Beginn des neuen
Jahres erinnert uns daran, dass das letzte und tiefste Wort, das Gott zu
uns Menschen sagt, nicht ein Nein, sondern ein Ja ist. Das Ja, das Gott
in Jesus Christus zu uns sagt, hält allem Nein unserer Schuld stand und
besiegt sie. So heißt es in einem Lied: „Planen und bauen, Neuland
begehn, füreinander glauben und sich verstehn, leben für viele, Brot
sein und Wein: So spricht Gott sein Ja, so stirbt unser Nein. So spricht
Gott sein Ja, so stirbt unser Nein.“
Das neue Jahr schenkt uns
einen neuen Anfang. Wie oft spürt man den Wunsch in seinem Herzen! Wir
haben uns gebunden an diese oder jene Verhaltensweisen, Gewohnheiten
oder Leidenschaften. Wir spüren, dass wir beladen sind, nicht nur durch
Arbeit und Sorge, sondern auch durch Versagen und Schuld. „Ach,
könnte man doch noch einmal von vorne anfangen! Ein neues Leben
beginnen! Wie vieles würde man anders, besser machen!“
So denken wir zuweilen.
Ja, wir können es: einen neuen Anfang machen. Das vor uns liegende neue
Jahr sagt es uns. Es sagt uns, dass jeder Jahreswechsel uns einen neuen
Anfang schenkt.
Der evangelische Theologe
Dietrich Bonhoeffer hat kurz vor seinem Tod im KZ einen Text verfasst,
der als Lied vertont worden ist. Dieses Lied wird oft gesungen, aber
wenn man sich den Ursprung des Textes vor Augen führt, dann kann man es
nicht zu jeder Gelegenheit singen. Bonhoeffer weiß, dass das neue Jahr
für ihn den Tod bringen wird. Und trotzdem oder gerade deshalb schreibt
er gegen Ende des Jahres diesen Text an seine Angehörigen und Freunde. –
So möchte ich meine Gedanken mit ein paar Zeilen aus diesem Text
beschließen, in der Hoffnung, dass auch wir diesem Gott unser Leben, das
heißt auch das vergangene und neue Jahr anvertrauen können.
Von guten Mächten treu
und still umgeben,
behütet und getröstet
wunderbar,
so will ich diese Tage
mit euch leben
und mit euch gehen in
ein neues Jahr.
Doch willst du uns noch
einmal Freude schenken
an dieser Welt und
ihrer Sonne Glanz,
dann wolln wir des
vergangenen gedenken,
und dann gehört dir
unser Leben ganz.
Lass warm und still die
Kerzen heute flammen,
die du in unsre
Dunkelheit gebracht.
Führ, wenn es sein
kann, wieder uns zusammen.
Wir wissen es, dein
Licht scheint in der Nacht.
Von guten Mächten
wunderbar geborgen
erwarten wir getrost,
was kommen mag.
Gott ist mit uns am
Abend und am Morgen
und ganz gewiss an
jedem neuen Tag.
Diese Predigt
orientiert sich an einer Vorlage von Hans-Werner Günther |