geistliche Impulse

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Predigt

von P. Pius Kirchgessner, OFMCap

 

Das alte und das neue Jahr in Gottes guten Händen

Predigt zum Jahreswechsel

 

 

Wenn das Jahr zu Ende geht, schaue ich mir gern noch mal meinen Kalender an und blättere darin. Und wenn ich mir die Eintragungen so anschaue, die Termine, Orte und Namen, dann werden Erinnerungen wach. Es kommt mir vieles in den Sinn, was ich im vergangenen Jahr alles so erlebt und erfahren habe. Ich sehe Menschen vor mir, mit denen ich zusammengelebt oder eine gewisse Zeit verbracht habe, Menschen, denen ich begegnet bin. Lebensgeschichten und Schicksale tauchen vor mir auf, schöne und schwierige Situationen fallen mir ein. Ich denke an die Exerzitienkurse, die ich gehalten habe, an Gespräche, die ich geführt habe, Arztbesuche. Meine Urlaubserfahrungen in Garmisch-Partenkirchen und im Odenwald tauchen in meiner Erinnerung wieder auf, aber auch Krisenzeiten, Krankheiten, Geglücktes und Misslungenes, und, und, und …

 

Und dann taucht unwillkürlich auch die Frage auf: Was mache ich mit all dem, was da geschehen ist? Was mache ich mit diesem Jahr, das in wenigen Stunden zu Ende geht? Was passiert ist, ist passiert. Ich kann es nicht mehr rückgängig machen, ich kann nichts mehr ändern. Ich muss es so stehen und gut sein lassen.

 

An dieser Stelle fällt mir ein Bibelwort ein: „Kommt alle zu mir, die ihr müde und beladen seid. Ich werde euch neue Kraft schenken.“ Mit diesem Wort lädt Jesus mich ein, so wie ich bin und so wie ich mich fühle, zu ihm zu kommen und alles, was ich habe zu ihm zu bringen, auch alles, was ich mit mir herumschleppe, was das Jahr so mit sich gebracht hat, ihm zu geben, ihm zu übergeben, es gleichsam in seine Hände zu legen. Ja, ich darf meinen vollen Rucksack bei ihm abstellen.

 

Vieles war beschwerlich in diesem Jahr. Auch das darf ich ablegen. Wenn ich den Rucksack ablege, dann spüre ich eine große Erleichterung. Ich fühle mich frei, vielleicht sogar ein Stück befreit. Ich kann aufrecht stehen. Die Last drückt nicht mehr nach unten. Ich darf all die vielen guten und weniger guten Erfahrungen und Erlebnisse Gott anvertrauen, sie in seine Hände legen. Und das sind gute Hände und heilende Hände. Er nimmt alles an und schenkt mir neue Kraft.

 

Um es in einem anderen Bild zu sagen: Ich darf das Tor hinter mir zu machen und abschließen. Einer hat es einmal so ausgedrückt: „Jeden Tag einen Punkt machen, die Seite umblättern und neu anfangen. Wenn wir keinen Punkt machen, sitzen wir hoffnungslos fest.“ Geben wir jeden Abend unser vollgeschriebenes Blatt ab, so wie es ist. Legen wir es in die Hände Gottes, dann können wir morgen neu anfangen.“ – Was hier im Blick auf den Tag gesagt ist, dürfen wir auch übertragen und auf das ganze Jahr beziehen. Wir dürfen einen Punkt machen und den vollgeschriebenen Terminkalender Gott übergeben.

 

Vor uns liegt ein neues Jahr. Das Tor ist geöffnet und wir können in die Ferne schauen. Vieles liegt noch unberührt vor uns. Allerdings, ganz unbeschrieben ist mein neuer Terminkalender nicht. Einiges ist schon eingetragen. Und doch: So wie jeder Tag ein neuer Anfang ist, so ist auch jedes neue Jahr ein neuer Anfang, der uns von Gott geschenkt ist.

 

Der Beginn des neuen Jahres erinnert uns daran, dass das letzte und tiefste Wort, das Gott zu uns Menschen sagt, nicht ein Nein, sondern ein Ja ist. Das Ja, das Gott in Jesus Christus zu uns sagt, hält allem Nein unserer Schuld stand und besiegt sie. So heißt es in einem Lied: „Planen und bauen, Neuland begehn, füreinander glauben und sich verstehn, leben für viele, Brot sein und Wein: So spricht Gott sein Ja, so stirbt unser Nein. So spricht Gott sein Ja, so stirbt unser Nein.“

 

Das neue Jahr schenkt uns einen neuen Anfang. Wie oft spürt man den Wunsch in seinem Herzen! Wir haben uns gebunden an diese oder jene Verhaltensweisen, Gewohnheiten oder Leidenschaften. Wir spüren, dass wir beladen sind, nicht nur durch Arbeit und Sorge, sondern auch durch Versagen und Schuld. „Ach, könnte man doch noch einmal von vorne anfangen! Ein neues Leben beginnen! Wie vieles würde man anders, besser machen!“

So denken wir zuweilen. Ja, wir können es: einen neuen Anfang machen. Das vor uns liegende neue Jahr sagt es uns. Es sagt uns, dass jeder Jahreswechsel uns einen neuen Anfang schenkt.

 

Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer hat kurz vor seinem Tod im KZ einen Text verfasst, der als Lied vertont worden ist. Dieses Lied wird oft gesungen, aber wenn man sich den Ursprung des Textes vor Augen führt, dann kann man es nicht zu jeder Gelegenheit singen. Bonhoeffer weiß, dass das neue Jahr für ihn den Tod bringen wird. Und trotzdem oder gerade deshalb schreibt er gegen Ende des Jahres diesen Text an seine Angehörigen und Freunde. – So möchte ich meine Gedanken mit ein paar Zeilen aus diesem Text beschließen, in der Hoffnung, dass auch wir diesem Gott unser Leben, das heißt auch das vergangene und neue Jahr anvertrauen können.

 

Von guten Mächten treu und still umgeben,

behütet und getröstet wunderbar,

so will ich diese Tage mit euch leben

und mit euch gehen in ein neues Jahr.

 

Doch willst du uns noch einmal Freude schenken

an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,

dann wolln wir des vergangenen gedenken,

und dann gehört dir unser Leben ganz.

 

Lass warm und still die Kerzen heute flammen,

die du in unsre Dunkelheit gebracht.

Führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen.

Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht.

 

Von guten Mächten wunderbar geborgen

erwarten wir getrost, was kommen mag.

Gott ist mit uns am Abend und am Morgen

und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

 

Diese Predigt orientiert sich an einer Vorlage von Hans-Werner Günther