Es war in Südfrankreich
Ende der Fünfziger-Jahre. Ein Augenzeuge hat es berichtet. Evangelische
Soldaten aus den westeuropäischen Ländern trafen sich. Deutsche,
Engländer, Franzosen, Dänen, Norweger, Belgier, Holländer und in Europa
stationierte Amerikaner. Es gab Reden, Gesprächskreise und eine Reihe
Möglichkeiten, um einander zu begegnen und sich kennenzulernen. Und es
gab einen gemeinsamen Gottesdienst.
Als der letzte Tag zu
Ende ging, saßen alle im weiten Rund auf der Erde. In der Mitte brannte
ein mächtiges Lagerfeuer. Sie sangen, sie redeten und lachten. – Da bat
ein schmaler junger Belgier, man möge ihm erlauben, zu der Versammlung
ein paar Worte zu sagen.
„Ich muss euch etwas
erzählen, Freunde. Ich war im vergangenen Krieg ein kleiner Junge und
lebte in Belgien. Mein Vater und meine Mutter wurden von der Nazi-SS
erschossen. Ich habe mir geschworen, die Mörder meiner Eltern mein
ganzes Leben lang zu hassen.
Nun bin ich
hierhergefahren, weil ich hoffte, französische Freunde zu treffen. Ich
wusste nicht, dass auch Deutsche hier sein würden. Ich wäre sonst nicht
gekommen. Denn es ist unmöglich zu vergessen. Ich kann nicht vergessen.
Ich kann nicht vergeben. Nein, es ist unmöglich. So habe ich mir vom
ersten Tag an gesagt. Ich wollte nun eben so tun, als wären die
Deutschen nicht hier. Es war zu schrecklich, was sie mir und meiner
Familie angetan hatten.
Nun, heute Morgen beim
Gottesdienst unter den Kastanien, da war neben mir ein Platz frei. Ein
Deutscher kam und setzte sich neben mich. Ihr wisst, es war kalt heute
Morgen. Ich hatte einen Umhang, der Deutsche neben mir nicht. Da legte
ich meinen Umhang um uns beide. Aber ich sagte mir: Er ist nicht dein
Freund. Er ist ein Deutscher. Du musst ihn hassen. Er wusste es
natürlich nicht und lachte mich an.
Nachher beim Abendmahl
standen wir vorn am Altar wieder nebeneinander. Da wusste ich: Christus
ist nicht nur für uns, sondern auch für diese Deutschen gestorben. Und
ich entdeckte, dass auch die Deutschen Brüder sind, dass sie nicht
dreckige Boches sind, wie wir sie abfällig nennen, sondern Brüder, auch
Brüder im Glauben. Das ist alles, was ich sagen wollte.“
Nicht wahr, liebe
Schwestern und Brüder,
ein eindrückliches Erlebnis, ein berührendes Glaubenszeugnis – und, wie
ich meine – eine Erfahrung des Heiligen Geistes. Denn der Geist Gottes
ist immer ein Geist der Versöhnung, nicht der Vergeltung, ein Geist der
Vergebung und nicht der Rache, ein Geist des Friedens und nicht des
Hasses.
Gottes Geist
bewegt die Herzen, wenn Feinde wieder miteinander sprechen und Gegner
sich die Hände reichen. Wenn es uns gelingt, das menschlich gesehen
Unverzeihliche zu verzeihen – aus Liebe zu Jesus und in der Kraft seines
Geistes – da sind wir der Liebe Gottes ganz, ganz nah.
Liebe Schwestern und
Brüder!
Wie wir mit Versagen,
Unrecht und Schuld umgehen, das zeigt aus welchem Geist wir leben. Nach
menschlichem Ermessen scheint Vergebung oft nicht möglich zu sein, weil
das Unrecht zu groß ist und die Wunden so tief. Da braucht es Gottes
Geist, um in allem Leid und Schmerz Neues zu denken, Neues zu beginnen,
Vertrauen zu wagen und über Mauern des Hasses und der Feindschaft sich
die Hände zu reichen.
Und genau dazu
fordert Jesus im Evangelium heute seine Jünger auf. Er sagt: „Wie
mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch!“ Und zu dieser
Sendung gehört als Grundauftrag der Kirche und aller Jünger und
Jüngerinnen Jesu ganz wesentlich die Vergebung von Schuld. Gottes Geist
schenkt Bereitschaft zur Versöhnung. Die Devise lautet nicht mehr: „Wie
du mir so ich dir“, sondern „wie der Vater“ und „wie ich“, „so ihr“!
In der Nachfolge
Christi sind wir berufen und befähigt, Schuld zu vergeben. „Wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr!“ – „Seid
barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist!“ – „Vergib uns
unsere Schuld, wie auch wir vergeben (haben) unseren Schuldigern!“
Ist Vergebung möglich?
Das Evangelium spricht davon als pfingstliche Gabe des Geistes. In
seiner Kraft können wir hinter uns lassen, was uns verwundet und
wehgetan hat. In seiner Kraft können wir Gräben zuschütten, Brücken
bauen und einander den neuen Anfang schenken. „Wem ihr die Sünden
vergebt, dem sind sie vergeben“, sagt Jesus
Aber
es gibt auch die andere Möglichkeit – und auch der junge Belgier in der
Geschichte hätte sie gehabt –, wenn er sich dem Geist Gottes, dem Geist
der Versöhnung verschlossen hätte und stur bei seinen Hass- und
Feindesgedanken geblieben wäre.
Denn das stimmt auch: „Wem ihr die Sünden behaltet“ – und das heißt: die Vergebung
verweigert – „dem sind sie behalten“ – und damit die Vergebung
verweigert. Kein Pardon! Auch das gibt es. Wie oft erleben wir es! Das
Festhalten und Festschreiben von Sünde und Schuld.
Ganz anders Papst
Johannes XXIII.
An Weihnachten 1958 verließ er erstmals nach Jahrhunderten als Papst den
Vatikan. Er besuchte das Kinderheim Gesu Bambino und das Gefängnis
Regina Coeli.
Zu den
Gefängnisinsassen sagte er wörtlich: „Es ist unmöglich auszudrücken, was in meinem Herzen vorgeht, während
ich zu euch spreche… Meine Augen blicken in eure… Ich drücke mein Herz
an eures…“ – In der Abteilung für Schwerverbrecher fiel ein
verurteilter Mörder vor ihm auf die Knie und bettelte: „Kann auch so
einer wie ich Vergebung finden?“ – Statt einer Antwort hob Johannes
den Gefangenen auf und umarmte ihn.
Da kommt mir das Bild
vom barmherzigen Vater und vom verlorenen Sohn in den Sinn. Keine
Vorwürfe, keine Strafandrohung, keine Bußforderung! Im Gegenteil:
herzliche Umarmung, bedingungslose Aufnahme und vorbehaltlose Annahme.
Es gibt keine Schuld, die Gott nicht vergeben könnte. Größer als alle
Schuld ist seine Liebe.
Liebe Schwestern und
Brüder!
Beten wir um die Kraft
zur Vergebung! Beten wir um diese pfingstliche Gabe, damit wir den
Frieden im Herzen spüren, den der Auferstandene durch seinen Geist
schenken will.
Und öffnen wir uns für
diesem Geist! Geben wir IHM Raum in unserem Denken, Reden und Tun!
Lassen wir uns von IHM inspirieren und bewegen! Lassen wir uns von IHM
ermutigen und leiten!