„Gott
ist uns näher als wir uns selber“
Unaufhörlich klingt dieser Satz in seinem Ohr, während er müden
Schrittes durch den Nebel wandert. Wieder taucht er auf, dieser seltsame
Satz, den er nie mehr in seinem Herzen auslöschen konnte, seit er einmal
an sein Ohr herangetragen worden war.
Damals,
als er noch ein Kind war, damals, als seine Mutter jeden Tag mit
geröteten Augen umherlief und den weiten, traurigen Blick vor des Kindes
Feinfühligkeit nicht zu verbergen wusste.
Es war in
dieser Zeit, als sie ihm plötzlich leise dieses augustinische Wort
zuflüsterte und ihm dabei zärtlich über den Kopf strich. Mit großen
Augen hatte er seine Mutter angestaunt und das plötzliche Leuchten in
ihrem Blick entging ihm nicht.
Er
verstand den Satz nicht. Doch begann er zu ahnen, welch wunderbares
Geheimnis darin geborgen lag.
So fielen
diese Worte tief in sein Inneres, begleiteten ihn all die Jahre über als
leise geheimnisvolle Melodie, deren Satz er nie ganz aufzuschlüsseln
wusste.
Nun, da
er so geht, einsam, in Nacht und Dunkelheit, mit gebeugtem Rücken, da
beginnt diese Melodie in ihm wieder zu spielen. Plötzlich gleitet ein
Zucken über sein gefurchtes Gesicht. Und wer einen Blick in seine
getrübten Augen werfen könnte, fände darin das gleiche Leuchten, das er
damals in den Augen seiner Mutter gesehen hatte.
„Gott
ist uns näher als wir uns selber“
Könnte
dieser Satz nicht auch eine Melodie für uns sein?
Vielleicht sähen wir manche Dinge dann in einem anderen Licht?
Manche
Maßstäbe könnten sich verändern. Wir sähen wieder deutlicher. Wir kämen
dem Geheimnis näher, das Gott heißt.
Dass er
mir näher ist als ich mir selber, dass er mich kennt, besser sogar als
ich mich selber, dass er mich beim Namen ruft, dass ich ihm nicht
gleichgültig bin, dass er ein brennendes Interesse an mir hat, dass er
mir liebend nahe ist, dass er „mir innerer ist als mein Innerstes“
(Augustinus), das kann jede Lähmung nehmen, das mag zu erfüllen mit
Trost und Hoffnung, mit Mut und Zuversicht.
„Gott
ist uns näher als wir uns selbst.“
Dieser
Satz wird für mich zu einer frohmachenden und ermutigenden Botschaft:
Gott ist da! Gott ist kein fernes in sich ruhendes Wesen jenseits der
Sterne. Gott weiß um mich. Er ist mir nahe. Diese Nähe ist nicht
unheimlich, sondern tröstlich. Denn von Jesus weiß ich: es gibt einen,
der es gut mit mir meint, einen, der mich in Liebe versteht, einen, der
sich zu mir bekennt, wer immer ich auch bin, wie immer es mir geht und
was auch immer ich getan habe. – Und ich beginne ruhig zu werden. Ein
Leuchten kommt in meinen Blick, stille Freude erfüllt mich.
„Gott
– mir näher als ich mir selbst.“
Ich
beginne zu erahnen, welch wunderbares Geheimnis, welch trostvolle
Wahrheit darin geborgen liegt. Und wie beseligend, wie beglückend ist
diese Wahrheit!
„Gott
– mir näher als ich mir selbst.“
Das sich
immer wieder in Erinnerung und ins Bewusstsein rufen! Dabei verweilen,
dem nachspüren, es verspüren und verkosten, das ganz tief in mich
aufnehmen, mich davon durchdringen und erfüllen, mich davon prägen und
bestimmen lassen!
„Gott
– mir näher als ich mir selbst.“
Auch dem
jeweils anderen Menschen ist Gott näher als er sich selbst, innerer als
sein Innerstes. Auch in ihm wohnt Gott!
Christus im Bruder, in der Schwester!
Wenn ich
das bedenke, was bedeutet das dann? Was ergibt sich daraus?
Was für
eine Ehrfurcht und Achtsamkeit im Umgang miteinander müsste das zu Folge
haben? Wie viel Achtung, Respekt, Verständnis oder sogar Liebe?
Möge Gott
uns aufmerksam machen für seine Gegenwart nicht nur in uns, sondern auch
im anderen, in jedem, dem wir begegnen.
GEBET
„Du
Gott meines Lebens,
Geheimnis, das mein Leben durchdringt,
Erfüllung meiner Sehnsucht
und
Grund meines Daseins.
Lass
mich erfahren,
dass
du da bist,
dass
du der Lebendige bist,
mir
näher als ich mir selbst.
Lass
mich erfahren,
dass
nicht ein blindes Schicksal
über
mir ist, augenlose Materie.
Lass
mich im Glauben erfahren:
Deine
gute Nähe,
Deine
liebende Gegenwart.
Und
gib, dass sie mich ganz durchdringt.
Du
mein Schöpfer und mein Heil.
(Siehe
auch das Gebet von Edith Stein im Gotteslob Nr. 8, 6, welches das
augustinische „Du näher mir als ich mir selbst“ aufgreift.)
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