geistliche Impulse

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Predigt

von P. Pius Kirchgessner, OFMCap

 

Gott - uns näher als wir uns selbst

 

 

„Gott ist uns näher als wir uns selber“

Unaufhörlich klingt dieser Satz in seinem Ohr, während er müden Schrittes durch den Nebel wandert. Wieder taucht er auf, dieser seltsame Satz, den er nie mehr in seinem Herzen auslöschen konnte, seit er einmal an sein Ohr herangetragen worden war.

 

Damals, als er noch ein Kind war, damals, als seine Mutter jeden Tag mit geröteten Augen umherlief und den weiten, traurigen Blick vor des Kindes Feinfühligkeit nicht zu verbergen wusste.

 

Es war in dieser Zeit, als sie ihm plötzlich leise dieses augustinische Wort zuflüsterte und ihm dabei zärtlich über den Kopf strich. Mit großen Augen hatte er seine Mutter angestaunt und das plötzliche Leuchten in ihrem Blick entging ihm nicht.

 

Er verstand den Satz nicht. Doch begann er zu ahnen, welch wunderbares Geheimnis darin geborgen lag.

 

So fielen diese Worte tief in sein Inneres, begleiteten ihn all die Jahre über als leise geheimnisvolle Melodie, deren Satz er nie ganz aufzuschlüsseln wusste.

 

Nun, da er so geht, einsam, in Nacht und Dunkelheit, mit gebeugtem Rücken, da beginnt diese Melodie in ihm wieder zu spielen. Plötzlich gleitet ein Zucken über sein gefurchtes Gesicht. Und wer einen Blick in seine getrübten Augen werfen könnte, fände darin das gleiche Leuchten, das er damals in den Augen seiner Mutter gesehen hatte.

 

„Gott ist uns näher als wir uns selber“

Könnte dieser Satz nicht auch eine Melodie für uns sein?

Vielleicht sähen wir manche Dinge dann in einem anderen Licht?

Manche Maßstäbe könnten sich verändern. Wir sähen wieder deutlicher. Wir kämen dem Geheimnis näher, das Gott heißt.

 

Dass er mir näher ist als ich mir selber, dass er mich kennt, besser sogar als ich mich selber, dass er mich beim Namen ruft, dass ich ihm nicht gleichgültig bin, dass er ein brennendes Interesse an mir hat, dass er mir liebend nahe ist, dass er „mir innerer ist als mein Innerstes“ (Augustinus), das kann jede Lähmung nehmen, das mag zu erfüllen mit Trost und Hoffnung, mit Mut und Zuversicht.

 

„Gott ist uns näher als wir uns selbst.“

Dieser Satz wird für mich zu einer frohmachenden und ermutigenden Botschaft: Gott ist da! Gott ist kein fernes in sich ruhendes Wesen jenseits der Sterne. Gott weiß um mich. Er ist mir nahe. Diese Nähe ist nicht unheimlich, sondern tröstlich. Denn von Jesus weiß ich: es gibt einen, der es gut mit mir meint, einen, der mich in Liebe versteht, einen, der sich zu mir bekennt, wer immer ich auch bin, wie immer es mir geht und was auch immer ich getan habe. – Und ich beginne ruhig zu werden. Ein Leuchten kommt in meinen Blick, stille Freude erfüllt mich.

 

„Gott – mir näher als ich mir selbst.“

Ich beginne zu erahnen, welch wunderbares Geheimnis, welch trostvolle Wahrheit darin geborgen liegt. Und wie beseligend, wie beglückend ist diese Wahrheit!

 

„Gott – mir näher als ich mir selbst.“

Das sich immer wieder in Erinnerung und ins Bewusstsein rufen! Dabei verweilen, dem nachspüren, es verspüren und verkosten, das ganz tief in mich aufnehmen, mich davon durchdringen und erfüllen, mich davon prägen und bestimmen lassen!

 

„Gott – mir näher als ich mir selbst.“

Auch dem jeweils anderen Menschen ist Gott näher als er sich selbst, innerer als sein Innerstes. Auch in ihm wohnt Gott!

Christus im Bruder, in der Schwester!

Wenn ich das bedenke, was bedeutet das dann? Was ergibt sich daraus?

Was für eine Ehrfurcht und Achtsamkeit im Umgang miteinander müsste das zu Folge haben? Wie viel Achtung, Respekt, Verständnis oder sogar Liebe?

Möge Gott uns aufmerksam machen für seine Gegenwart nicht nur in uns, sondern auch im anderen, in jedem, dem wir begegnen.

 

GEBET

„Du Gott meines Lebens,

Geheimnis, das mein Leben durchdringt,

Erfüllung meiner Sehnsucht

und Grund meines Daseins.

Lass mich erfahren,

dass du da bist,

dass du der Lebendige bist,

mir näher als ich mir selbst.

Lass mich erfahren,

dass nicht ein blindes Schicksal

über mir ist, augenlose Materie.

Lass mich im Glauben erfahren:

Deine gute Nähe,

Deine liebende Gegenwart.

Und gib, dass sie mich ganz durchdringt.

Du mein Schöpfer und mein Heil.

 

(Siehe auch das Gebet von Edith Stein im Gotteslob Nr. 8, 6, welches das augustinische „Du näher mir als ich mir selbst“ aufgreift.)