Es gibt
Tage und Situationen, da sieht man – wie das Sprichwort sagt – vor
lauter Bäumen den Wald nicht mehr.
Das kann
einem in den alltäglichen Dingen passieren, aber auch im Glauben.
Was ist
wirklich wichtig? Worauf kommt es an?
Und
worauf kann man vielleicht auch verzichten?
613
Vorschriften gab es im Judentum zur Zeit Jesu, 248 Gebote und 365
Verbote.
Wer
sollte sich da noch auskennen und zurechtfinden?
Nur
wenige theologische Experten haben da noch durchgeblickt.
Hunderte
von Geboten und Verboten! Was ist da wichtig?
Darüber
wurde damals unter den Schriftgelehrten diskutiert.
Eine
Frage war auch, ob man die vielen Vorschriften in einem einzigen Gebot
zusammenfassen kann.
Im
Evangelium heute stellt ein Gesetzeslehrer Jesus die Frage nach dem
wichtigsten Gebot und will Jesus damit auf die Probe stellen. Wie wird
er reagieren? Was wird er antworten?
Jesus
reiht sich mit seiner Antwort in die jüdische Glaubenstradition ein.
Er
zitiert zwei Stellen aus dem Ersten Testament:
Deuteronomium 6, 5 (von jedem frommen Juden täglich gebetet!) und
Levitikus 19, 18. Beide Stellen sind bekannt.
Das Neue
ist, dass Jesus beide bestehenden Gebote, die Gottesliebe und die
Nächstenliebe, miteinander verknüpft, sie zu einer Einheit verbindet und
beide als gleich wichtig hinstellt.
Neu ist
bei Jesus auch die Ausweitung der Nächstenliebe.
Der
Nächste ist nicht mehr nur der Mitbürger und Stammesgenosse, der Freund
oder Verwandte, sondern jeder, der in Not geraten ist und der Hilfe
bedarf.
Das hat
Jesus durch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter sehr eindeutig und
sogar provokativ dargelegt.
Liebe
Schwestern und Brüder!
Die
Zusammenfassung der beiden Gebote durch Jesus wird oft als das „Doppelgebot
der Liebe“ bezeichnet, das – wie unter einem Brennglas – deutlich
und sichtbar macht, was im christlichen Glauben wirklich wichtig ist.
Doch
genau genommen ist es kein Doppelgebot, sondern ein Dreifachgebot: Die
Liebe zu Gott, die Liebe zum Nächsten und die Liebe zu sich selbst.
Allerdings, der kleine Zusatz „wie dich selbst“ wird oft
übersehen.
Und doch
ist eine gesunde Selbstliebe die unverzichtbare Voraussetzung für
praktizierte Nächstenliebe. Nächstenliebe und Selbstliebe gehören
zusammen. Sie bedingen sich gegenseitig.
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“
Christliche Nächstenliebe hat ihr Maß und ihre Grenze an der
Selbstliebe. Denn kein Mensch kann wirklich andere achten und lieben,
wenn er sich selbst und seine eigenen Bedürfnisse ignoriert.
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“
Für mich
bedeutet das: ich muss lernen, mich selbst anzunehmen, zu mir selbst „ja“ zu sagen.
Sich
selbst mögen, sich selbst liebenswert finden, achtsam mit sich selbst
umgehen, sich selbst akzeptieren, barmherzig zu sich selber sein, all
das ist leichter gesagt als getan.
Sich
selbst annehmen, zu sich selbst „ja“ sagen, ist eine Kunst.
Man lernt
sich nicht von heute auf morgen. Wahrscheinlich ist es eine lebenslange
Aufgabe.
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“
Bei
Exerzitien und in der geistlichen Begleitung höre ich immer wieder die
Frage: Sich selbst lieben! Ist das denn erlaubt? Darf man das?
Ja man darf! Und man darf diese
Selbstliebe nicht mit Egoismus verwechseln! Wer zu sich selbst „ja“
sagen kann, ist kein Egoist.
Sehr viel hat es jedoch mit Selbstannahme
zu tun.
Mich selbst annehmen, so wie ich bin, mit
allen Ecken und Kanten, mit Schwächen und Fehlern, auch mit dem, was ich
an mir vielleicht nicht so toll finde, das ist gemeint mit gesunder
Selbstliebe, nicht narzisstische Selbstbeweihräucherung.
Die
Erfahrung zeigt: Wer sich selbst nichts gönnt, ist oft auch für andere
schwer zu genießen. Wer sich selbst nicht ausstehen kann, vermag oft
auch andere nicht auszustehen.
Und
umgekehrt: Wer andere hasst und ihnen zuleide lebt, hasst meistens auch
sich selbst. Wer es nicht fertig bringt, barmherzig zu sich selbst zu
sein und nachsichtig mit sich selbst umzugehen, dem fällt es auch
schwer, sich nachsichtig und barmherzig anderen gegenüber zu verhalten.
Die
Fehler, über die ich mich bei den anderen aufrege,
sind
allzu oft auch die meinigen.
Wo mich
der andere kränkt oder verletzt, stoße ich oft genug auf meine eigene
„Krankheit“ und auf meine eigenen Verletzungen.
Warum
reagiere ich so heftig auf beleidigende Worte?
Weil sie
mich an einer schwachen Stelle treffen, da, wo ich mich selbst noch
nicht angenommen habe.
Bin ich
mit mir selbst versöhnt, wenn es nur kleiner Nadelstiche bedarf, um mich
ausrasten und explodieren zu lassen?
Wenn ich
mich nicht so annehme, wie ich bin, dann wird sich das unweigerlich in
heimlichem Groll, in Bitterkeit und in Konflikten mit anderen äußern.
Viele Konflikte mit anderen sind Projektionen von Konflikten mit uns
selbst.
Nur wer
eine positive Einstellung zu sich selbst gefunden hat und auch seine
eigenen Schattenseiten angenommen hat, ist frei genug, um von sich und
seinen Problemen wegzukommen.
Erst dann
kann ein Mensch richtig offen sein für seine Mitmenschen, kann sie
lieben und bejahen und ihnen Gutes tun. Ja, es wird ihn geradezu dazu
drängen.
Die
Quelle für alles liegt nach meinem Dafürhalten in der Liebe Gottes zu
uns, zu mir.
Wenn ich
begriffen habe, dass Gott mich liebt und mich annimmt, so wie ich bin,
ohne Wenn und Aber, dann kann ich auch leichter „ja“ zu mir selbst
sagen. Und dies ist geradezu die Voraussetzung dafür, dass ich andere
Menschen lieben und annehmen kann.
Der Lieblingsjünger Johannes
findet für diese Liebe in seinem ersten Brief tiefste Worte. So sagt er
z.B.: „Wir
wollen einander lieben, weil Gott uns zuerst geliebt hat“
(4, 19). Und in 1 Joh 4, 11 heißt es:
„Wenn
Gott uns so geliebt hat, müssen auch wir einander lieben.“
Aus der
Liebe Gottes, die ausgegossen ist in unseren Herzen durch den Heiligen Geist,
können wir die Kraft schöpfen, selber Liebe zu üben, den anderen
liebevoll zu begegnen, auch denjenigen in Liebe zu ertragen, der mir
nicht so liegt, Geduld zu haben und zu verzeihen, Gutes zu tun.
Wo immer
aber Menschen Liebe üben, fällt ein göttlicher Funke auf die Erde.
Wo aber
Liebe ist, da ist Gott. – Ubi caritas et amor, deus ibi est.
Und noch
etwas, ein Wort von Albert Schweitzer:
„Das einzige Wichtige im Leben sind
die Spuren von Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir weggehen."
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