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Liebe deinen Nächsten wie dich selbst (30. Sonntag im Lesejahr A; Mt 22, 34 - 40)
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Es gibt Tage und Situationen, da sieht man – wie das Sprichwort sagt – vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Das kann einem in den alltäglichen Dingen passieren, aber auch im Glauben. Was ist wirklich wichtig? Worauf kommt es an? Und worauf kann man vielleicht auch verzichten?
613 Vorschriften gab es im Judentum zur Zeit Jesu, 248 Gebote und 365 Verbote. Wer sollte sich da noch auskennen und zurechtfinden? Nur wenige theologische Experten haben da noch durchgeblickt.
Hunderte von Geboten und Verboten! Was ist da wichtig? Darüber wurde damals unter den Schriftgelehrten diskutiert. Eine Frage war auch, ob man die vielen Vorschriften in einem einzigen Gebot zusammenfassen kann.
Im Evangelium heute stellt ein Gesetzeslehrer Jesus die Frage nach dem wichtigsten Gebot und will Jesus damit auf die Probe stellen. Wie wird er reagieren? Was wird er antworten?
Jesus reiht sich mit seiner Antwort in die jüdische Glaubenstradition ein. Er zitiert zwei Stellen aus dem Ersten Testament: Deuteronomium 6,5 (von jedem frommen Juden täglich gebetet!) und Levitikus 19,18. Beide Stellen sind bekannt.
Das Neue ist, dass Jesus beide bestehenden Gebote, die Gottesliebe und die Nächstenliebe, miteinander verknüpft, sie zu einer Einheit verbindet und beide als gleich wichtig hinstellt.
Neu ist bei Jesus auch die Ausweitung der Nächstenliebe. Der Nächste ist nicht mehr nur der Mitbürger und Stammesgenosse, der Freund oder Verwandte, sondern jeder, der in Not geraten ist und der Hilfe bedarf. Das hat Jesus durch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter sehr eindeutig und sogar provokativ dargelegt.
Liebe Schwestern und Brüder! Die Zusammenfassung der beiden Gebote durch Jesus wird oft als das „Doppelgebot der Liebe“ bezeichnet, das – wie unter einem Brennglas – deutlich und sichtbar macht, was im christlichen Glauben wirklich wichtig ist. Doch genau genommen ist es kein Doppelgebot, sondern ein Dreifachgebot: Die Liebe zu Gott, die Liebe zum Nächsten und die Liebe zu sich selbst. Allerdings, der kleine Zusatz „wie dich selbst“ wird oft übersehen. Und doch ist eine gesunde Selbstliebe die unverzichtbare Voraussetzung für praktizierte Nächstenliebe. Nächstenliebe und Selbstliebe gehören zusammen. Sie bedingen sich gegenseitig.
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Christliche Nächstenliebe hat ihr Maß und ihre Grenze an der Selbstliebe. Denn kein Mensch kann wirklich andere achten und lieben, wenn er sich selbst und seine eigenen Bedürfnisse ignoriert. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Für mich bedeutet das: ich muss lernen, mich selbst anzunehmen, zu mir selbst „ja“ zu sagen. Sich selbst mögen, sich selbst liebenswert finden, achtsam mit sich selbst umgehen, sich selbst akzeptieren, barmherzig zu sich selber sein, all das ist leichter gesagt als getan. Sich selbst annehmen, zu sich selbst „ja“ sagen, ist eine Kunst. Man lernt sich nicht von heute auf morgen. Wahrscheinlich ist es eine lebenslange Aufgabe. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ Bei Exerzitien und in der geistl. Begleitung höre ich immer wieder die Frage: Sich selbst lieben! Ist das denn erlaubt? Darf man das? Ja man darf! Und man darf diese Selbstliebe nicht mit Egoismus verwechseln! Wer zu sich selbst „ja“ sagen kann, ist kein Egoist. Sehr viel hat es jedoch mit Selbstannahme zu tun. Mich selbst annehmen, so wie ich bin, mit allen Ecken und Kanten, mit Schwächen und Fehlern, auch mit dem, was ich an mir vielleicht nicht so toll finde, das ist gemeint mit gesunder Selbstliebe, nicht narzisstische Selbstbeweihräucherung.
Die Erfahrung zeigt: Wer sich selbst nichts gönnt, ist oft auch für andere schwer zu genießen. Wer sich selbst nicht ausstehen kann, vermag oft auch andere nicht auszustehen.
Und umgekehrt: Wer andere hasst und ihnen zuleide lebt, hasst meistens auch sich selbst. Wer es nicht fertig bringt, barmherzig zu sich selbst zu sein und nachsichtig mit sich selbst umzugehen, dem fällt es auch schwer, sich nachsichtig und barmherzig anderen gegenüber zu verhalten.
Die Fehler, über die ich mich bei den anderen aufrege, sind allzu oft auch die meinigen. Wo mich der andere kränkt oder verletzt, stoße ich oft genug auf meine eigene „Krankheit“ und auf meine eigenen Verletzungen.
Warum reagiere ich so heftig auf beleidigende Worte? Weil sie mich an einer schwachen Stelle treffen, da, wo ich mich selbst noch nicht angenommen habe. Bin ich mit mir selbst versöhnt, wenn es nur kleiner Nadelstiche bedarf, um mich ausrasten und explodieren zu lassen?
Wenn ich mich nicht so annehme, wie ich bin, dann wird sich das unweigerlich in heimlichem Groll, in Bitterkeit und in Konflikten mit anderen äußern. Viele Konflikte mit anderen sind Projektionen von Konflikten mit uns selbst. Nur wer eine positive Einstellung zu sich selbst gefunden hat und auch seine eigenen Schattenseiten angenommen hat, ist frei genug, um von sich und seinen Problemen wegzukommen. Erst dann kann ein Mensch richtig offen sein für seine Mitmenschen, kann sie lieben und bejahen und ihnen Gutes tun. Ja, es wird ihn geradezu dazu drängen.
Die Quelle für alles liegt nach meinem Dafürhalten in der Liebe Gottes zu uns, zu mir. Wenn ich begriffen habe, dass Gott mich liebt und mich annimmt, so wie ich bin, ohne Wenn und Aber, dann kann ich auch leichter „ja“ zu mir selbst sagen. Und dies ist geradezu die Voraussetzung dafür, dass ich andere Menschen lieben und annehmen kann.
Der Lieblingsjünger Johannes findet für diese Liebe in seinem ersten Brief tiefste Worte. So sagt er z.B.: „Wir wollen einander lieben, weil Gott uns zuerst geliebt hat“ (4,19). Und in 1 Joh 4,11 heißt es: „Wenn Gott uns so geliebt hat, müssen auch wir einander lieben.“
Aus der Liebe Gottes, die ausgegossen ist in unseren Herzen durch den Hl. Geist, können wir die Kraft schöpfen, selber Liebe zu üben, den anderen liebevoll zu begegnen, auch denjenigen in Liebe zu ertragen, der mir nicht so liegt, Geduld zu haben und zu verzeihen, Gutes zu tun.
Wo immer aber Menschen Liebe üben, fällt ein göttlicher Funke auf die Erde. Wo aber Liebe ist, da ist Gott. – Ubi caritas et amor, deus ibi est.
Und noch etwas, ein Wort von Albert Schweitzer: „Das einzige Wichtige im Leben sind die Spuren von Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir weggehen.“ |
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