Liebe Schwestern und
Brüder!
Der vierte Ostersonntag
wird traditionell als der „Gute-Hirt-Sonntag“ begangen. „Hirten“
nannten sich in der alten Zeit die Könige und Führer des Volkes Israel.
Abraham
war ein Hirte und hatte viele Herden (vgl. Gen 13).
Mose
war gerade als Hirt mit seinen Schafen unterwegs, als er in der Steppe
einen Dornbusch brennen sah, aus dessen Flamme sich ihm Gott offenbarte
als der „Ich-bin-da“.
David
war mit seinen Schafherden unterwegs, als er König werden sollte, und
musste erst von weither geholt werden (vgl. 1 Sam 16, 11).
Im
heutigen Evangelium
offenbart sich Jesus als der „gute Hirte“.
Er entfaltet und
beschreibt, was er darunter versteht und wie er sich selbst sieht.
In den ersten Zeiten
der Christen
war die Gestalt des Hirten ein oft verwendetes und äußerst wichtiges
Symbol für Christus – viel populärer und viel weiterverbreitet als das
Zeichen des Kreuzes.
Unser Bild
– ein Ausschnitt aus einem Mosaik in Ravenna aus dem 5. Jahrhundert –
zeigt die Hand Jesu, wie sie gerade ein Schaf liebkost.
Aus dieser Geste sprechen
Zärtlichkeit und Fürsorge. Die Hand Jesu ist wie die eines lieben Vaters
oder einer guten Mutter, die mit Herz und Gefühl diejenigen, die ihm/ihr
anvertraut sind, mit Wohlwollen und Liebe umfängt.
Herz und Gefühl
schwingen auch in den Worten mit, die wir heute aus dem Mund Jesu hören:
„Ich kenne meine Schafe, und sie kennen mich.
Und sie hören auf meine Stimme.“
Liebe Schwestern und
Brüder!
Jesu Worte, aber auch der
Bildausschnitt, sagen und zeigen uns, dass Jesus nicht distanziert und
kühl uns Menschen gegenübersteht. Für ihn sind wir nicht anonyme
Herdentiere, nicht gesichtslose Nummern in einer unüberschaubaren Masse.
Jesus
blickt aufmerksam auf jeden, der sich ihm anschließt. Er weiß um die
Eigenart jedes Menschen, um seine Begabungen und Grenzen, um seinen
guten Willen und um seine Schwächen. So spricht er jeden mit seinem
Namen an.
Jesus
erwartet aber auch von uns, dass wir ihn kennen. Dass wir den Klang
seiner Stimme im Ohr haben und – gar nicht immer leicht – seine Stimme
heraushören aus dem Gewirr der vielen Stimmen, Meinungen und
Botschaften, die jeden Tag auf uns eindringen.
Jesus
möchte, dass wir durch ein Band der Liebe an ihn gebunden sind. Er
möchte, dass wir jederzeit wissen: Ich habe einen Freund, einen Bruder,
der seine Hand über mich hält. Und diese Hand ist zart und stark. Sie
gibt mir Wärme und Sicherheit. Wenn ich mich in sie flüchte und in ihr
berge, dann stehe ich im Schutz einer Macht, die größer ist als alle
Mächte der Welt, größer als Mächte des Unheils.
Diese Hand Jesu
ist letztlich die Hand des allmächtigen Gottes.
Denn Jesus sagt: „Niemand kann die Schafe meiner Hand entreißen. Mein Vater, der sie mir
gab, ist größer als alle. Und niemand kann sie der Hand meines Vaters
entreißen. Ich und der Vater sind eins.“ (vgl. Joh 10, 29 ff.).
Während ich unser Bild
betrachte, das von der Zugewandtheit, Herzlichkeit und fürsorglichen
Liebe Jesu spricht, fallen mir andere Stellen aus dem Neuen Testament
ein, die diesen Wesenszug unterstreichen.
Mir wird bewusst,
dass Jesus alles andere war als ein Philosoph, der mit
Verstandesklarheit und stoischer Gelassenheit an die Welt und die
Menschen heranging. Jesus war vielmehr ein Mann mit einem reichen
Gefühlsleben.
Immer wieder
wird von ihm erzählt, dass er „Mitleid hat“, dass er sich über das Volk
erbarmt. Dass er klagt über die Verstockten, die sich von ihm nicht
helfen lassen.
Jesus
fühlt sich ganz intensiv in seine Mitmenschen ein, er „kennt“ sie, und
zwar mehr mit dem Herzen als mit dem Intellekt.
Denken wir an ein
Bildwort, das dem vom guten Hirten ähnlich ist, aber noch mehr das
mütterliche Fühlen verrät: Jesus beklagt sich –am Ende seiner
öffentlichen Wirksamkeit – bitter über die Stadt Jerusalem, weil sie dir
Propheten tötet, die Gott ihr gesandt hat. Dabei sagt er wörtlich: „Wie
oft wollte ich deine Kinder um mich sammeln, so wie eine Henne ihre
Küken unter ihre Flügel nimmt. Aber ihr habt nicht gewollt“ (Lk 13, 34).
Oder denken wir an Jesus,
der Kinder umarmt und sie segnet. Erinnern wir uns auch an den weinenden
Jesus, der über den Tod seines Freundes Lazarus erschüttert ist.
Jesus zeigt Herz und
Gefühl.
Er verkörpert einen Gott,
dessen Wesen nicht reines Denken ist – wie es die griechischen
Philosophen meinten –, sondern Liebe. Einen Gott, der nicht
selbstgenügsam seine Seligkeit genießt, sondern sich seinen Geschöpfen
zuwendet. Und schon im Alten Testament den Namen „Jahwe“ trägt,
was wörtlich heißt: „Ich bin für euch da!“
Dieser Gott schaut uns
gleichsam aus unserem Bild, d.h. aus der zärtlichen Hand Jesu, an. Er
tastet nach uns, nach dir und nach mir. Und er freut sich über jeden,
der sich von ihm berühren und finden lässt.
(Das Bild sowie manche
Gedanken und Formulierungen verdanke ich einer Predigt von Sigfried Grän,
OFM)