geistliche Impulse

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Predigt

von P. Pius Kirchgessner, OFMCap

 

Jesus, der "gute Hirt" mit Herz und Gefühl

(4. Ostersonntag, Lesejahr B - Joh 10, 11 - 18)

 

Evangelium

Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe

+ Aus dem heiligen Evangelium nach Johannes

In jener Zeit sprach Jesus:

11Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.

12Der bezahlte Knecht aber, der nicht Hirt ist und dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen, lässt die Schafe im Stich und flieht; und der Wolf reißt sie und zerstreut sie. Er flieht,

13weil er nur ein bezahlter Knecht ist und ihm an den Schafen nichts liegt.

14Ich bin der gute Hirt; ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich,

15wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne; und ich gebe mein Leben hin für die Schafe.

16Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind; auch sie muss ich führen und sie werden auf meine Stimme hören; dann wird es nur eine Herde geben und einen Hirten.

17Deshalb liebt mich der Vater, weil ich mein Leben hingebe, um es wieder zu nehmen.

18Niemand entreißt es mir, sondern ich gebe es von mir aus hin. Ich habe Macht, es hinzugeben, und ich habe Macht, es wieder zu nehmen. Diesen Auftrag habe ich von meinem Vater empfangen.

 

 

Liebe Schwestern und Brüder!

Der vierte Ostersonntag wird traditionell als der „Gute-Hirt-Sonntag“ begangen. „Hirten“ nannten sich in der alten Zeit die Könige und Führer des Volkes Israel.

Abraham war ein Hirte und hatte viele Herden (vgl. Gen 13).

Mose war gerade als Hirt mit seinen Schafen unterwegs, als er in der Steppe einen Dornbusch brennen sah, aus dessen Flamme sich ihm Gott offenbarte als der „Ich-bin-da“.

David war mit seinen Schafherden unterwegs, als er König werden sollte, und musste erst von weither geholt werden (vgl. 1 Sam 16, 11).

 

Im heutigen Evangelium offenbart sich Jesus als der „gute Hirte“.

Er entfaltet und beschreibt, was er darunter versteht und wie er sich selbst sieht.

 

In den ersten Zeiten der Christen war die Gestalt des Hirten ein oft verwendetes und äußerst wichtiges Symbol für Christus – viel populärer und viel weiterverbreitet als das Zeichen des Kreuzes.

 

Unser Bild – ein Ausschnitt aus einem Mosaik in Ravenna aus dem 5. Jahrhundert – zeigt die Hand Jesu, wie sie gerade ein Schaf liebkost.

Aus dieser Geste sprechen Zärtlichkeit und Fürsorge. Die Hand Jesu ist wie die eines lieben Vaters oder einer guten Mutter, die mit Herz und Gefühl diejenigen, die ihm/ihr anvertraut sind, mit Wohlwollen und Liebe umfängt.

 

Herz und Gefühl schwingen auch in den Worten mit, die wir heute aus dem Mund Jesu hören: „Ich kenne meine Schafe, und sie kennen mich. Und sie hören auf meine Stimme.“

 

Liebe Schwestern und Brüder!

Jesu Worte, aber auch der Bildausschnitt, sagen und zeigen uns, dass Jesus nicht distanziert und kühl uns Menschen gegenübersteht. Für ihn sind wir nicht anonyme Herdentiere, nicht gesichtslose Nummern in einer unüberschaubaren Masse.

 

Jesus blickt aufmerksam auf jeden, der sich ihm anschließt. Er weiß um die Eigenart jedes Menschen, um seine Begabungen und Grenzen, um seinen guten Willen und um seine Schwächen. So spricht er jeden mit seinem Namen an.

 

Jesus erwartet aber auch von uns, dass wir ihn kennen. Dass wir den Klang seiner Stimme im Ohr haben und – gar nicht immer leicht – seine Stimme heraushören aus dem Gewirr der vielen Stimmen, Meinungen und Botschaften, die jeden Tag auf uns eindringen.

 

Jesus möchte, dass wir durch ein Band der Liebe an ihn gebunden sind. Er möchte, dass wir jederzeit wissen: Ich habe einen Freund, einen Bruder, der seine Hand über mich hält. Und diese Hand ist zart und stark. Sie gibt mir Wärme und Sicherheit. Wenn ich mich in sie flüchte und in ihr berge, dann stehe ich im Schutz einer Macht, die größer ist als alle Mächte der Welt, größer als Mächte des Unheils.

 

Diese Hand Jesu ist letztlich die Hand des allmächtigen Gottes.

Denn Jesus sagt: „Niemand kann die Schafe meiner Hand entreißen. Mein Vater, der sie mir gab, ist größer als alle. Und niemand kann sie der Hand meines Vaters entreißen. Ich und der Vater sind eins“ (vgl. Joh 10, 29 ff.).

 

Während ich unser Bild betrachte, das von der Zugewandtheit, Herzlichkeit und fürsorglichen Liebe Jesu spricht, fallen mir andere Stellen aus dem Neuen Testament ein, die diesen Wesenszug unterstreichen.

 

Mir wird bewusst, dass Jesus alles andere war als ein Philosoph, der mit Verstandesklarheit und stoischer Gelassenheit an die Welt und die Menschen heranging. Jesus war vielmehr ein Mann mit einem reichen Gefühlsleben.

 

Immer wieder wird von ihm erzählt, dass er „Mitleid hat“, dass er sich über das Volk erbarmt. Dass er klagt über die Verstockten, die sich von ihm nicht helfen lassen.

 

Jesus fühlt sich ganz intensiv in seine Mitmenschen ein, er „kennt“ sie, und zwar mehr mit dem Herzen als mit dem Intellekt.

Denken wir an ein Bildwort, das dem vom guten Hirten ähnlich ist, aber noch mehr das mütterliche Fühlen verrät: Jesus beklagt sich –am Ende seiner öffentlichen Wirksamkeit – bitter über die Stadt Jerusalem, weil sie dir Propheten tötet, die Gott ihr gesandt hat. Dabei sagt er wörtlich: „Wie oft wollte ich deine Kinder um mich sammeln, so wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt. Aber ihr habt nicht gewollt“ (Lk 13, 34).

Oder denken wir an Jesus, der Kinder umarmt und sie segnet. Erinnern wir uns auch an den weinenden Jesus, der über den Tod seines Freundes Lazarus erschüttert ist.

 

Jesus zeigt Herz und Gefühl.

Er verkörpert einen Gott, dessen Wesen nicht reines Denken ist – wie es die griechischen Philosophen meinten –, sondern Liebe. Einen Gott, der nicht selbstgenügsam seine Seligkeit genießt, sondern sich seinen Geschöpfen zuwendet. Und schon im Alten Testament den Namen „Jahwe“ trägt, was wörtlich heißt: „Ich bin für euch da!“

Dieser Gott schaut uns gleichsam aus unserem Bild, d.h. aus der zärtlichen Hand Jesu, an. Er tastet nach uns, nach dir und nach mir. Und er freut sich über jeden, der sich von ihm berühren und finden lässt.

 

(Das Bild sowie manche Gedanken und Formulierungen verdanke ich einer Predigt von Sigfried Grän, OFM)