Herr August Kayser, ledig,
alleinstehend, kleines Licht beim Amt für Statistik,
verzichtet auf seinen Urlaub zwischen Weihnachten und
Neujahr zugunsten seiner verheirateten Kollegen. Bei der
Weihnachtsfeier am 23. Dezember klopft ihm sein
Abteilungsleiter jovial auf die Schulter: "Also Herr Kayser,
nun halten Sie mal schön die Stellung so allein. Und wenn
Sie Langeweile haben, dann machen Sie sich doch schon mal
Gedanken über die Volkszählung im nächsten Jahr." Und weil
ihm das noch nicht nett genug scheint, dem vorweihnachtlich
gestimmten, sonst gar nicht so jovialen Chef, fügt er noch
hinzu: "Sie wissen ja, ich halte viel von Ihrem Urteil."
Herr Kayser weiß nicht. Denn
sein Chef hat sich noch nie für seine Meinung interessiert.
Aber weil August Kayser Weihnachten sonst eh nichts
geschenkt bekommt, kann er nicht wählerisch sein. So nimmt
er die schön verpackten Worte dankend entgegen und trägt sie
sorgsam nach Hause. Erst am Heiligabend, als in allen
anderen Wohnungen ringsum der Weihnachtsbaum besungen wird,
packt er sie dann vorsichtig aus, wendet sie hin und her.
Dann schüttelt er sie gründlich, ob nicht ein Körnchen
Wahrheit herausfällt.
Nun ja, wenn er es recht
bedenkt, dumm ist er nicht. Nein, eigentlich ist er sogar
recht gescheit. Denn was er sagt, das hat stets Hand und
Fuß. Vielleicht hat das sein Chef endlich gemerkt. Und weil
die wohlgefüllte Weihnachtsgans in seinem Backofen noch eine
Weile köstlich duftend vor sich hin braten wird, nimmt er
sich ein leeres Blatt Papier, setzt sich an seinen großen
Tisch, um sich gescheite Volkszählungsfragen auszudenken.
Diese Volkszählung muss nämlich eine besondere werden. Nicht
wieder so ein Dilemma wie die letzte.
Doch bevor er noch
irgendeinen klugen Gedanken entwickeln kann, schellt es an
der Tür. Vielleicht ein Nachbarn, der ihm ein frohes
Weihnachtsfest wünschen will.
Mitnichten. Vor der Tür steht
doch tatsächlich so ein abgerissener Strolch, rote Hände von
der Kälte, rote Nase von der Kälte und vom Schnaps, und
bittet um eine freundliche Gabe. Herr Kayser holt tief Luft.
So eine Unverfrorenheit ist ihm noch nie vorgekommen. Nicht
mal Weihnachten ist man vor solchen Leuten sicher.
"Also hören Sie mal, Mann,
wissen Sie eigentlich, was für ein Tag heute ist?"
Der Mann nickt: "Weiß ich!
Eben drum. Unsereins würd auch gern was von Weihnachten
merken." Und tief atmet er die köstlichen Düfte der Gans
ein, die durch die Tür entweichen und die Treppe hinunter
tänzeln.
Und während die Düfte
enteilen, stiehlt sich durch die offene Wohnungstür ein
bisschen Tannenduft von nebenan hinein in Herrn Kayser,
geradewegs und mitten in sein Herz, genau dahin, wo die
verstaubte Schachtel mit alten Weihnachtsliedern, mit
Kindergeheimnissen, mit Friede auf Erden und all dem guten
Willen seit Jahren fest verschnürt steht.
Keine alte Schachtel kann
Tannenduft widerstehen. So öffnet sie sich und all die guten
Dinge purzeln fröhlich heraus, schwirren durch seinen Kopf,
greifen ihm unter die Arme und lösen seine Zunge. Und eh er
sich versieht, hat er den Mann gebeten hereinzukommen und
Platz zu nehmen.
Da sitzt der nun, ein Stück
Dreck, mitten in seinem Wohnzimmer vor dem Tisch mit dem
fast leeren Blatt. Der Fremde fasst es mit seinen
schmierigen Fingern an und liest stockend: "Volkszählung."
August Kayser sieht ihn gequält an, wie man ein ekliges
Insekt betrachtet, sieht, wie es in dem verwüsteten Gesicht
arbeitet, wie es sich erhellt: "Ja, Volkszählung. So war das
Weihnachten. Hatte ich ganz vergessen."
Widerwillig erklärt ihm Herr
Kayser, dass es hier nicht um die biblische Volkszählung
geht, sondern um eine wichtige Volkserfassung im nächsten
Jahr, die er gerade ausarbeitet. Eine schwierige
verantwortungsvolle Aufgabe, die sein Chef gerade ihm
übertragen hat, weil er für diese sensible Aufgabe besonders
geeignet ist.
"Und was fragt man da?" will
der Penner wissen.
"Nun ja", erklärt Herr Kayser
vage, "eben alles, was man so von den Leuten wissen will."
und schlau fügt er hinzu: "Was würden Sie denn fragen?"
Da muss der andere nicht lang
überlegen. Er atmet genüsslich den Gänseduft ein und meint:
"Ich würd fragen:
"Wann hatten Sie zum
letzten Mal eine leckere warme Mahlzeit?"
Gerade in diesem Moment
rumpelt die alte Schachtel noch einmal heftig und lässt
Herrn Kayser eine freundliche Einladung zum Gänsebraten
entgleiten. Ein pfiffiges Lächeln mischt sich unter die
Bartstoppeln des Eingeladenen. Er blinzelt der alten
Schachtel zu: "Spielregeln verstanden" legt den Kopf etwas
schief und meint: "Ja, und dann würd ich fragen:
"Wann hatten Sie zum
letzten Mal ein schönes, warmes Bad?"
Nun hatte auch Herr Kayser
die Spielregeln verstanden. Und er spielt mit. Und während
der Fremde seine Schmutzborke in Schauma 2000 noch
aufweichen muss, ist das Herz von Herrn Kayser längst weich
wie die Gans im Backofen. So ergänzt er nun seinerseits den
Fragebogen des Gastes um zwei weitere Vorschläge:
"Wann haben sie zum
letzten Mal frische Unterwäsche und ein sauberes Hemd
angezogen?"
und
"Wann hatten Sie zum
letzten Mal einen anständigen Anzug an?"
Eine knappe Stunde später
trifft man sich dann zu dritt bei Tisch: Die Gans braun und
kross und nach wie vor verlockend duftend, beherrscht den
Tisch eindeutig als Hauptperson. Davor der glattrasierte,
blitzblanke Fremde, der nicht minder köstliche, wenn auch
andere Düfte verströmt. Er wirkt in dem betagten Cordanzug,
den Herrn Kayser in Erinnerung an seinen Schulabschluss bis
heute aufgehoben hat, beträchtlich feierlich. Gegenüber Herr
Kayser im Sonntagsanzug, gleichfalls köstlich duftend.
"Wann haben Sie zum
letzten Mal ein gutes Glas Wein getrunken?"
prostet Herr Kayser leutselig
seinem Gegenüber zu. Doch der widmet sich gerade mit Hingabe
der zarten Gänsebrust. Die Gans, die Herrn Kayser eigentlich
auch noch durch den nächsten Tag hatte begleiten sollen,
endet schon heute.
Und da Weihnachten ist, gibt
es auch eine Bescherung. Herr Kayser schenkt dem Mann eine
alte Steppjacke, die er für die Altkleidersammlung weggelegt
hatte. Dazu eine Kappe und ein paar warme Handschuhe, bei
denen nur der Daumen ein Loch hat. Und auf die alten Schuhe,
die er eh nur beim Schneeschaufeln angezogen hat, kann er
auch verzichten. Schließlich legt er noch in Geberlaune ein
paar neue Socken dazu, die ihm zu groß sind. Der Fremde
kramt in seinen alten Sachen, die noch im Bad liegen, und
schenkt Herrn Kayser einen Flachmann, fast leer, aber mit
einer hübschen silbernen Kappe.
Ein richtig schöner Abend
wird das. Der Fremde denkt und spricht zwar etwas
schwerfällig. Dafür öffnen sich bei Herrn Kayser die
Schleusen ungewohnter Beredsamkeit. Und der Fremde hört satt
und zufrieden, friedlich und freundlich zu, wie Herr Kayser
sich mal so alles von der Seele redet, was er noch nie
jemandem erzählt hat, und was er schon längst mal jemandem
hätte erzählen sollen.
Spät wird es, sehr spät. Zu
spät, um so jemanden wieder auf die Straße zurückzuschicken.
Also macht Herr Kayser das Bett fertig, in dem seine Mutter
immer geschlafen hatte, als sie noch lebte.
"Wann haben Sie das letzte
Mal in einem weichen, frisch bezogenen Bett geschlafen?"
Dann ziehen die beiden Herren
sich in ihre Zimmer zurück. Während der Fremde sofort wie
ein Stein schläft, liegt Herr Kayser noch lange wach und
denkt nach. Und während er nachdenkt, schläft endlich die
alte Schachtel ein, und Herr Kayser bekommt wieder einen
klaren Kopf. Leise steht er auf. Leise dreht er den
Schlüssel an seiner Zimmertür um. Wie gut, dass er alle
Wertsachen in seinem Schlafzimmer aufbewahrt. Man weiß ja
nie.
Und dann fallen ihm alle die
Geschichten ein von ungebetenen Gästen, die unverschämt und
anspruchsvoll werden und sich bei gutmütigen Menschen breit
machen. Nicht mit mir, knurrt er entschlossen. Nicht mit
mir. Er setzt sich energisch im Bett auf und probt in
Gedanken einige sehr rabiate Ansprachen, mit denen er den
Fremden vor die Tür setzen wird. Dann legt er sich wieder
hin und schläft grimmig ein.
Und am nächsten Morgen wacht
er grimmig auf. Er macht sich nicht einmal die Mühe, seine
Zimmertür leise aufzuschließen. Soll der Fremde das ruhig
hören. Jawohl, ihn überfällt man nicht einfach im Schlaf.
Dann merkt der gleich, wo er dran ist. Energisch öffnet er
die Tür, hinter der der Fremde schläft. Aber das Bett ist
leer. Die Decken zusammengelegt, allerdings recht
ungeschickt. Über dem Stuhl hängt der Cordanzug.
Der Fremde ist fort. Die
"Weihnachtsgeschenke" hat er mitgenommen, auch die alten
Sachen aus dem Badezimmer. Ob sonst etwas fehlt, kann Herr
Kayser so schnell nicht überschauen. Mitten auf dem Tisch
auf dem leeren Volksbefragungsblatt steht der Flachmann mit
dem Rest Schnaps. Herr Kayser schüttelt sich angewidert,
nimmt die Flasche mit spitzen Fingern auf und will sie
fortwerfen.
Da sieht er die krakeligen
Buchstaben auf dem weißen Fragebogenblatt. Mühsam entziffert
er:
Wann wurden Sie das letzte
Mal wie ein Mensch behandelt?
Danke Bruder!
Herr Kayser stellt die
hübsche Flasche mit der silbernen Kappe wieder behutsam auf
den Tisch.
© Gisela Baltes |