,,Dein Gottvertrauen möchte ich haben!“
Wie oft habe ich das zu meiner Tante Lisbeth gesagt. Und das meinte ich
durchaus ernst. Denn niemals ist mir jemand begegnet, der sich darin mit
ihr messen kann. Obwohl sie in ihrem Leben schon viele Schicksalsschläge
einstecken musste, ist sie nie verzweifelt. Immer glaubte sie fest
daran, dass ihr ,Herrgott’ ihr in jeder Notlage beistehen würde. Das
half ihr, auch die schlimmsten Krisen zu überstehen.
,,Wie bist du eigentlich zu diesem
felsenfesten Gottvertrauen gekommen?“ habe ich sie einmal gefragt. Sie
wollte so recht nicht mit der Sprache herausrücken. Das machte mich erst
wirklich neugierig, und ich ließ nicht locker, bis sie zu erzählen
begann:
,,Früher war ich viel bei meiner Oma.
Immer, wenn Oma bei einem unlösbar scheinenden Problem keinen Rat
wusste, sagte sie: „Dann müssen wir eben den lieben Gott fragen.“
„Ach, sie hat gebetet.“ unterbrach ich
meine Tante. „Aber da kriegt man doch keine Antwort.“
Meine Tante lächelte: „Du kanntest meine
Oma nicht. Wenn die von Gott eine Antwort brauchte, dann bekam sie die
auch. Sie holte sich die in der Bibel. Die schlug sie mit geschlossenen
Augen auf und tippte dann blind mit ihrem Zeigefinger auf eine Stelle
der aufgeschlagenen Seiten. Dann las sie sehr sorgfältig, was da stand.
Und wenn sie Glück hatte ergab sich aus dem Gelesenen eine Antwort auf
ihre Frage.“
Ich unterbrach meine Tante: „Im Ernst?
Die Bibel als Orakelbuch?“
Meine Tante lächelte: „Ich verstehe
deinen Einwand. Aber ganz so eng sah das meine Oma nicht. Sie ging davon
aus, dass alles in der Bibel in irgendeiner Form wegweisend war. Wenn
sie also in der aufgeschlagenen Bibelseite keine Antwort fand, gab sie
Gott noch weitere Chancen und schlug so lange eine weitere Seite auf,
bis sie endlich eine Stelle fand, die passte.“
„Und das klappte?“ zweifelte ich. Die
Tante lächelte: „Mit etwas Geduld immer.“
Nun wollte ich aber noch mehr wissen:
„Machst du das auch und beziehst daraus dein Gottvertrauen?“
„Sei doch nicht so ungeduldig!“ bremste
mich meine Tante. ,,Lass mich erst mal zu Ende erzählen.“
So fuhr sie fort: ,,Wie du vielleicht
weißt, ist meine Mutter sehr früh gestorben. Ich war damals noch ein
Kind und konnte nicht begreifen, dass ich sie nun nie mehr sehen würde.
Ganz verzweifelt fragte ich die Oma, ob mich meine Mama denn nicht lieb
gehabt und deshalb verlassen hätte. Meine Oma versicherte mir, dass die
Mama mich immer lieb gehabt hätte und auch weiter lieb haben würde. Aber
jetzt sei sie beim lieben Gott. Vergessen würde sie mich bestimmt nie.
Dann nahm die Oma mich in den Arm und wiegte mich hin und her. Aber ich
konnte nicht aufhören zu weinen. Schließlich wusste sie sich keinen
anderen Rat mehr, holte ihre Bibel und schlug mit vor, den lieben Gott
zu fragen. Für einen Augenblick war ich abgelenkt. Denn dieses Vorgehen
hatte ich zwar immer wieder bei ihr beobachtet, aber noch nie selbst
gemacht.
Der Vers, auf den ich tippte, war Jes 49,
15: ‚Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter ihren
leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: ich vergesse
dich nicht.’ Oma erklärte mir, mit dem leiblichen Sohn sei das nicht so
wörtlich zu nehmen. Das gälte auch für eine Tochter. Und das wäre auch
nur eine Scheinfrage, weil die Antwort sonnenklar sei. Es wäre also
schon mal ganz sicher, dass die Mama mich lieb habe und nie vergessen
würde, auch wenn sie jetzt nicht mehr bei mir sein könne. Aber ganz
wichtig sei auch der zweite Teil. Damit wolle der liebe Gott mir
unzweifelhaft sagen, dass er mich nie im Stich lassen würde, erst recht
jetzt nicht, wo die Mama nicht mehr bei mir sein könne. Brauchte es noch
mehr Beweise? Die Tränen versiegten, und ich fühlte mich sehr
getröstet.“
Wir schwiegen eine Weile. Schließlich
griff ich den Faden wieder auf: „Hast du auf diese Weise auch später
noch versucht, eine Antwort von Gott zu bekommen?“
,,Nein,“ lächelte meine Tante, „denn ich
habe ja bereits als Kind eine Antwort bekommen, die für ein ganzes Leben
reicht: ‚Ich vergesse dich nicht!‘ Ich habe oft darüber nachgedacht, ob
es nun ein Zufall oder Fügung war, dass ich in meinem Kummer damals
gerade auf diese tröstliche Stelle gestoßen bin. Sie war ein Geschenk
für mich, ein Geschenk für mein ganzes weiteres Leben. ‚Ich vergesse
dich nicht.’ Obwohl ich diese Stelle längst auswendig kenne, schlage ich
sie immer wieder auf. Und sie gibt mir auch heute noch Kraft und Trost
in jeder Not.“
Tante Lisbeth stand auf und holte ihre
Bibel. Sie musste gar nicht blättern, die Bibel sprang sofort an der
gesuchten Stelle auf. „Siehst du, da steht es: ‚Ich vergesse dich
nicht.’ Mir ist klar geworden, dass dieser Zuspruch Gottes nicht nur ein
Geschenk für mich allein ist. Es ist ein Geschenk, das ich teilen und
weitergeben kann, ohne dass es weniger wird. Ein Geschenk, das für ein
ganzes Leben reicht – für jeden. Du musst es nur annehmen.“
© Gisela Baltes |