Wenn Laura Liebeskummer hatte, litt stets
die ganze Familie mit. Aber so schlimm wie diesmal war es noch nie
gewesen. Darüber waren alle sich einig.
Laura verließ ihr Zimmer nur, um zum
Essen oder zur Toilette zu gehen. Jedem, der sie auf diesen Wegen
anzusprechen wagte, blieb angesichts ihrer Leidensmiene das Wort im
Halse stecken.
Jens, der Verursacher ihrer Seelenqualen,
rief pausenlos an. Aber sie ließ sich immer verleugnen. Alle rätselten,
was er ihr wohl Schreckliches angetan hatte. Aber gar so schrecklich
musste das nicht einmal gewesen sein. Sie wussten ja alle, dass Laura
manchmal reichlich zickig sein konnte. Und dann war mit ihr nicht gut
Kirschen essen.
Beim Mittagessen versuchte Katrin, die
gedrückte Stimmung ein wenig aufzulockern und begann zu erzählen, was
der total abgedrehte Ralf aus ihrer Klasse sich heute schon wieder
geleistet hatte. Aber ein vernichtender Blick ihrer leidenden großen
Schwester ließ sie sogleich wieder verstummen. So beschränkte sich der
Austausch bei Tisch schließlich auf Mitteilungen wie: „Könnte ich wohl
bitte noch ein paar Kartoffeln haben.“ oder „Würdest du mir bitte die
Soße reichen“ und ähnliche lebensnotwendigen Äußerungen.
„So kann das nicht weitergehen!“ donnerte
Vater und schlug mit der Faust auf den Tisch - allerdings erst, als
Laura sich wieder in ihr Zimmer zurückgezogen hatte. „Aber was sollen
wir denn tun?“ jammerte Mutter. „Wenn sie doch nun mal so leidet.“
„Warum holt ihr nicht Tante Friederike?“
schlug Benjamin vor.
„Aber Benni“, belehrte Katrin ihren
kleinen Bruder. „Tante Friederike ist Kinderärztin. Erstens ist Laura
kein Kind mehr. Und zweitens ist sie nicht richtig krank.“
„Nun ja“, meinte Mutter, „so schlecht ist
die Idee vielleicht gar nicht. Schließlich hat Tante Friederike immer
prima Ideen. Vielleicht weiß sie einen Rat.“
Tante Friederike wusste einen. Gerade als
der arme Jens zum siebenunddreißigsten Mal an diesem Tag vergeblich
versuchte, seine gekränkte Liebste zu erreichen, klingelte es an der
Tür. Benni öffnete. Tante Friederike hielt sich nicht mit langen
Erklärungen auf, sondern ging zielstrebig auf Lauras Zimmer zu, öffnete
die Tür und trat - Lauras Protest ignorierend - ein.
Eigentlich ist es unfein, an Türen zu
lauschen. Aber da alle zu gern gewusst hätten, was sich nun da drinnen
tat, legten sie einträchtig das Ohr dagegen, während Benni durchs
Schlüsselloch spähte.
Laura lag leidend auf ihrem Bett. Das
konnte Benni aus seiner Position zwar nicht sehen. Aber wo hätte sich
Laura wohl in ihrem beklagenswerten Zustand sonst aufhalten könnten.
Leider konnte er auch nicht sehen, dass Tante Friederike sich zu ihr ans
Bett setzte. Hören konnte man leider auch so gut wie gar nichts. So
gaben sie schließlich ihren Lauscherposten auf, bleiben aber in
Alarmbereitschaft.
Laura hatte sich inzwischen vom Bett
aufgesetzt und zog neugierig die Papierserviette auseinander, in die
Tante Friederike etwas Federleichtes eingeschlagen hatte. Etwas
enttäuscht schaute sie auf ein vertrocknetes kugeliges Etwas, das da zum
Vorschein kam. Es sah aus wie ein Büschel hartes vertrocknetes Gras - so
ähnlich jedenfalls. „Was soll denn das sein?“ fragte sie.
„Oh, das hab ich mal von meiner Oma
bekommen, als es mir ebenso schlecht ging wie dir“, antwortete Tante
Friederike.
Da wurde Laura hellhörig. „Ebenso
schlecht. Ja, hattest du denn früher auch schon mal ... .eh … ich meine
… !“
„Aber klar! Nicht nur einmal. Ich hatte
ziemlich viel Ärger mit Jungs. Und dann ging es mir jedes mal
entsetzlich schlecht.“
„Und dieses komische Ding da hat dir
geholfen?“ meinte Laura skeptisch.
„Irgendwie schon“ lächelte Tante
Friederike.
„Aber das muss doch schon uralt sein,
wenn dir das deine Oma geschenkt hat. Meinst du, das wirkt überhaupt
noch. Was macht man denn damit. Kocht man da irgendeinen Tee draus?“
„Wart’s ab!“ meinte Tante Friederike. Sie
ging in die Küche. Und gleich war sie vom Rest der Familie umringt. Aber
sie erzählte nichts, sondern bat nur um eine kleine flache Schale mit
etwas warmem Wasser. Mutter erfüllte ihr diesen Wunsch. Und während
Tante Friederike damit wieder in Lauras Zimmer verschwand, nahm Katrin
seufzend den achtunddreißigsten Anruf von Jens entgegen.
Tante Friederike nahm das vertrocknete
kugelige Etwas, das sie mitgebracht hatte, und legte es in das warme
Wasser. Laura schaute ihr sehr skeptisch zu. Was auch immer da für ein
Gebräu draus entstehen würde, sie würde das ganz gewiss nicht trinken.
Tante Friederike stellte die Schale ohne
einen Kommentar beiseite auf den Tisch. Dann setze sie sich wieder zu
Laura und ließ sich erzählen, was denn so Schreckliches passiert war.
Es dauerte über eine Stunde, bis Laura
unter reichen Tränenfluten alles erzählt hatte. Tante Friederike hörte
sich alles schweigend an, nickte hier und da verständnisvoll, schüttelte
ab und zu nachdenklich den Kopf. Schließlich war die ganze Geschichte
erzählt und der Tränenstrom versiegt.
Tante Friederike sagte immer noch nichts.
Aber das war gut so, denn Laura hatte auf einmal ganz viel, worüber sie
nachdenken musste. Und als sie fertig nachgedacht hatte, ging es ihr
schon viel besser.
„Ich glaub, ich brauche deine komische
Medizin gar nicht mehr“ meinte sie und schaute zu der Schale mit dem
vertrockneten Ding. Aber dann riss sie die Augen auf. „Was ist denn
das?“ rief sie. Denn das vertrocknete Ding hatte sich zu einer
wunderschönen moosgrünen Rosette entfaltet.
„Das ist eine Rose von Jericho“
antwortete die Tante. „Das ist eine Wüstenpflanze. Die kann einige
hundert Jahre alt werden. Und man kann sie immer wieder zum Blühen
bringen. So wie ich das jetzt gemacht habe.“
Laura schaute lange auf die wunderschöne
grüne Rosette.
Mitten in die Stille hinein schrillte das
Telefon.
Laura sprang auf und lief zur Tür.
„Das wird Jens sein!“ rief sie und wie
der Blitz war sie am Telefon.
© Gisela Baltes |