Kai liebte es, wenn sein Großvater zu
Besuch kam. Niemand sonst hatte soviel Geduld, sich stundenlang auf das
Bauklötzchen-Spiel einzulassen. Großvater baute die kunstvollsten Türme.
Und dann brachte Kai sie mit einem kleinen Stubs vergnügt glucksend zum
Einsturz.
Als er älter wurde, liebte Kai immer noch
dieses Spiel. Es waren nicht mehr die Türme, sondern die Träume anderer
Menschen, die er nun zerstörte. Er war ein Meister darin, mit ein paar
witzelnden oder ironischen Bemerkungen, die Pläne, Ideen und Projekte
anderer zum Einsturz zu bringen.
So hatte er gleich ein paar entmutigende
Bemerkungen bereit, als er hörte, dass seine Schwester Bettina ihre
sichere Stellung aufgeben wollte, um sich selbständig zu machen. Aber da
war er bei ihr an der falschen Adresse: „Musst du einem immer alles mies
machen! Warum kannst du nicht auch die tollen Möglichkeiten sehen, die
ich dann habe?“ Entrüstet wehrte er sich, er habe es doch nur gut
gemeint. Das sah Bettina aber ganz anders. Ein Wort gab das andere. Und
schon war ein heftiger Streit entfacht, der damit endete, dass Kai mit
einem wütenden Türknallen die Wohnung verließ.
Am nächsten Tag war sein monatlicher
Besuch beim Großvater. Immer noch tief gekränkt über die Reaktion seiner
Schwester erzählte er diesem von ihrem Streit, fest davon überzeugt,
beim Großvater Unterstützung zu bekommen. Aber der alte Mann schwieg.
Eine Weile hingen beide ihren Gedanken nach.
Dann stand der Großvater auf und kramte
in seinem Schrank. Schließlich kam er mit der alten
Bauklötzchenschachtel zurück. Der Opa wird auch immer seltsamer, dachte
Kai und wunderte sich: „Ich wusste gar nicht, dass es die noch gibt!“
„Deine Mutter wollte sie verschenken“, schmunzelte der Großvater, „da
hab ich sie stibitzt. Kennst du noch unser altes Spiel?“ „Natürlich!“
nickte Kai und sah innerlich seufzend zu, wie der Großvater bedächtig
Stein auf Stein setzte. Und da die Hände des alten Mannes schon zittrig
waren, drohte das Bauwerk einige Male einzustürzen. Schließlich war der
Turm fertig. Und Kai machte seinem Großvater die Freude, den Turm
umzustürzen.
Der Großvater nickte zufrieden. Dann
schob er den Haufen Bauklötze zu Kai rüber: „Nun bist du dran. Bau
wieder auf, was du zerstört hast.“
Denkanstöße:
Haben Sie auch schon einmal Menschen
erlebt, die es spielend schaffen, mit ein paar Bemerkungen Ihre Träume
zu zerstören? Wie reagieren Sie darauf? Lassen Sie das zu? Oft scheinen
solche Äußerungen ins Schwarze zu treffen, die Einwände plausibel und
realistisch zu sein. Und manchmal werden wir vielleicht vor Schaden
bewahrt, wenn wir völlig „auf dem Holzweg“ sind. So ist es nicht immer
leicht, zu unterscheiden, ob diese Kritiker es gut mit uns meinen oder
ob da Traum-Zerstörer reden, die sich mit ihren witzigen oder ironischen
Sprüchen nur hervortun wollen.
Seien Sie also auf der Hut, wenn jemand
Ihnen mit ein paar flapsigen Bemerkungen Ihre Pläne oder Ideen zu
verleiden droht. Fragen Sie ihn nach Argumenten, nach
Verbesserungsvorschlägen. Wenn dann keine stichhaltigen Begründungen und
keine konstruktiven Vorschläge kommen, können Sie ziemlich sicher sein,
dass Sie es mit so einem Traum-Zerstörer zu tun haben, der keine eigenen
Ideen entwickeln, dafür aber umso besser andere zerstören kann.
Es ist zu hoffen, dass der Kai in unserer
Geschichte die Botschaft des Großvaters verstanden hat. Kais Hang zu
witzelnden oder ironischen Bemerkungen macht ihn nicht gleich zu einem
Bösewicht. Aber mit den Träumen anderer Menschen sollte er behutsamer
umgehen. Das kritische Hinterfragen allzu unrealistischer Träume ist
manchmal nötig und hilfreich. Gleichzeitig sollte Kritik aber immer auch
aufbauen und helfen, Alternativen und neue Wege zu finden.
Weiterführende Fragen:
-
Wie gehe ich mit den Ideen und
Träumen anderer um?
-
Finde ich stets sofort das „Haar in
der Suppe“?
-
Sende ich ermutigende Botschaften
aus?
-
Übe ich ehrliche und zugleich
aufbauende Kritik?
-
Wie wehre ich mich gegen
Traum-Zerstörer?
-
Bei welchen Menschen weiß ich meine
Gedanken, Ideen und Träume gut aufgehoben?
© Gisela Baltes |