Franziskus ging querfeldein hinter Leo her. Beide waren an diese stillen
Gänge durch die offene Natur gewöhnt. Sie stiegen die Hänge einer
Schlucht hinab. Unten rumorte ein Wildbach.
"Unsere
Schwester, die Quelle", rief Franziskus als er an den Bach trat. "Diese
Klarheit ist ein Loblied auf die Unschuld des Herrn."
Leo
sprang von Stein zu Stein schnell über den Bach. Franziskus kam ihm
etwas langsamer nach.
"Du
grübelst, scheint mir", sagte Franziskus leichthin zu Leo.
"Ja, wenn
uns ein bisschen von dieser Reinheit vergönnt wäre, dann hätten auch wir
die närrische, überbordende Freude unserer Schwester Quelle und die
unwiderstehliche Kraft ihres Wassers."
Ein
abgründiges Heimweh schwang in Leos Worten. Er starrte melancholisch auf
den Bach - ein Bild der Reinheit, die sich dem Menschen für immer
versagt.
"Komm",
sagte Franziskus und zog ihn mit sich.
Die
beiden machten sich wieder auf den Weg. Sie schwiegen eine Weile, fragte
Franziskus: "Weißt du, Bruder, was ein reines Herz ist?"
"Wenn man
sich nichts vorzuwerfen hat", antwortete Leo ohne lange zu überlegen.
"Dann
verstehe ich, dass du traurig bist, irgendetwas hat man sich immer
vorzuwerfen."
"Eben,
und deshalb habe dich die Hoffnung auf ein reines Herz aufgegeben."
"Ach,
Bruder Leo, glaub mit, kümmere dich nicht so sehr um die Reinheit des
Herzens. Sieh auf Gott. Bewundere ihn. Freu dich, dass es ihn gibt, ihn,
den ganz und gar Heiligen. Dank ihm um seiner selbst willen. Eben das,
mein kleiner Bruder, heißt, ein reines Herz haben. Und wenn du dich so
Gott zugewandt hast, wende dich vor allem nie auf dich selbst zurück.
Frag dich nicht, wie du mit Gott stehst. Die Trauer darüber, dass man
nicht vollkommen ist und dass man den Sünder in sich entdeckt, ist ein
menschliches, ein allzu menschliches Gefühl. Du musst den Blick höher,
viel höher heben. Es gibt Gott, es gibt die Unendlichkeit Gottes und
seine unwandelbare Herrlichkeit.
Ein
solches Herz ist zugleich leer und übervoll. Dass Gott Gott ist, genügt
ihm. Aus dieser Gewissheit schöpft es all seinen Frieden und seine
Freude. Und die Heiligkeit eines Herzens, auch die ist dann nichts
anderes als Gott."
Eligius Leclere:
Weisheit eines Armen
Dietrich-Goelde-Verlag 1980 |