Leiser Regen fiel auf den alten Wald und
wusch den Sommer von den Bäumen. Das Laub erglühte jetzt in allen
erdenklichen Farben. Ein sanfter Wind sang dem Wald das Lied der letzten
Stunden und ein matter Seidensonnenschimmer spiegelte sich in einer
Regenpfütze. Es wurde Herbst.
Mitten im Wald wurde ein kleines Blatt,
das sich nicht verfärben wollte, melancholisch: „Einen Sonnenkreis habe
ich gelebt, und nun soll ich also sterben!“ Das Blatt erinnerte sich an
seine erste Begegnung mit dem Licht und träumte vom Duft des Frühlings.
Jetzt, unter den Regentränen des Herbstes, sah alles ganz anders aus.
Eine verzweifelte Angst schnürte es ein und hielt es gefangen. All seine
Lebenskraft und Lebensfreude hatte das Blatt verloren und konnte weder
leben noch sterben. „Was für einen Sinn hat mein Leben gehabt, wenn es
jetzt alles aus sein soll?“ schluchzte das kleine Blatt und klammerte
sich verzweifelt an seine fahlgrüne Farbe. Mit dem Verfärben begann das
Sterben, das wusste es wohl. Sein Schluchzen hörte ein Blatt vom
Nachbarbaum. „Warum weinst du, kleines Blatt?“ „Ach, mir ist so elend!
Einen Sonnenkreis habe ich gelebt, und nun muss ich sterben. Alles soll
mit einem Mal aus sein. Ich habe solche Angst vor dem Tod.“
„Hab keine Angst, du gehst nicht
verloren! Spürst du den sanften Wind? Der Tod ist immer schon da in
unserem Leben. Er umspielt uns so sanft wie der Wind. Wenn unsere Zeit
erfüllt ist, nimmt er uns zu sich. Es ist, als ob er eine reife Frucht
pflückt. Nein, vor dem Tod brauchst du keine Angst zu haben – in ihm ist
das Leben.“
Das konnte das kleine Blatt nicht
verstehen. Die Vorstellung von einem zärtlichen, ja liebenden Tod, in
dem obendrein das Leben sein soll, war ihm gänzlich fremd. Der Tod war
immer etwas Starkes und Furchterregendes für das kleine Blatt gewesen.
Überhaupt, wie konnte dieses Blatt so vermessen daherreden? Es lebt doch
selber noch und konnte wohl kaum mitreden. Doch gelassen und sicher, als
hole es die Gedanken von weit her, antwortete das Nachbarblatt: „Man
darf den Tod und das Leben nicht voneinander trennen, als ob sie nichts
miteinander zu tun hätten und verschiedenen Wirklichkeiten angehörten.
Leben und Tod sind auf geheimnisvolle Weise eins. Unser ganzes Leben ist
ein einziges Einüben ins Sterben. Sterben heißt, sich loslassen. Jeder
ist allein das, was er von sich weitergibt. Man nennt dies die Weisheit
des Alters, kleines Blatt. Erst im Herbst unseres Lebens haben wir
gelernt, alle Farben des Lichts an die Welt weiterzugeben. Nur deshalb
sind wir im Herbst so farbenprächtig, weil wir begriffen haben: alles
ist Geschenk, das es weiter zu schenken gilt. Wer loslassen kann, was er
geschenkt bekam, der kann schließlich auch sich selbst loslassen. Hab
also keine Angst vor dem Sterben – es muss sehr befreiend sein. Wer aber
Angst hat zu sterben, der bekommt auch Angst, richtig zu leben. Er
beginnt sein Leben abzusichern und sperrt es damit ein. Der Tod kann
lebensgefährlich sein, wenn er einem Angst macht. Wer aber dem Leben
vertrauen kann, wird keine Angst vor dem Tod haben. Er wird es wagen
können und nur dem, der es wagt, wird es bunt, lebendig und reich.“ –
Das kleine Blatt war über diese Gedanken ganz still geworden. Viele Tage
schwiegen die beiden miteinander und es war ein gutes Beisammensein. In
der Stille reifen die wirklich großen Dinge.
In dem kleinen Blatt entfaltete sich in
den letzten Tagen ein großer Glaube. Es lernte leben, weil es sterben
musste. Das kleine Blatt begann sich selbst und die Farben seines Lebens
an die Welt zu verschenken. Es hielt sich nicht länger krampfhaft fest,
sondern hatte die Freiheit gewonnen. Äußerlich war das daran zu
erkennen, dass es sich mehr und mehr verfärbte. Am siebten Tag
schließlich leuchtet es in den schönsten Farben, von denen es nie geahnt
hatte, sie alle in sich zu tragen. So lernte es im Geben und Verschenken
den Reichtum seines Lebens kennen.
Zum Blatt am Nachbarbaum sagte es:
“Danke, ich habe viel von dir gelernt. Du hast mir vom Sterben erzählt
und es wurde eine Geschichte vom Leben. Solange ich hier am Baum lebe,
nehme ich das Licht der Sonne auf und gebe es wieder ab. Je mehr ich
davon abgebe, desto schöner werde ich. Ich glaube, der Tod hat gar
nichts mit dem Sterben zu tun, so wie es die Welt versteht. Er ist
vielmehr eine Art von Wachstum. Das Wesentliche an mir ist nicht meine
jetzige Gestalt, denn sie ist wandelbar und ständig im Wachsen
begriffen.
Das Wesentliche an mir ist vielmehr das
einzigartige Leben, das in mir wohnt. Mein Leben ist das Licht. Mit
jedem Tag nimmt es größeren Raum in mir ein und erfüllt mich mehr. Es
wächst und reift, bis meine Blattgestalt, die Wohnung meines Lebens,
schließlich zu klein ist. Mein kleines Lebenshaus steht der ganzen Fülle
im Wege und ich wachse gewissermaßen darüber hinaus, ziehe in eine
unendliche Wohnung ein und werde schließlich zu dem, wozu ich bestimmt
bin: Licht. Warum ich darauf nicht früher gekommen bin, weiß ich nicht.
Aber ich bin dankbar, dass es mir geschenkt wurde. Es ist so einfach:
man braucht nur wesentlich zu werden.“
Als einige Tage später der sanfte Tod kam
und das Blatt mit sich nahm, sagte es noch diesen Satz: „Trauere nicht
um mich, Welt. Wenn du wüsstest, wo ich jetzt hingehe, würdest du nicht
weinen. Was du den Tod nennst, ist nicht das Ende, sondern allein die
Vollendung.“
Ulrich Peters
Quelle: Verlag am Eschbach, Reihe:
Eschbacher Mini’s, 2. Aufl. 2008 |