Peter ist beim Essen auffallend still.
„Was ist los?“ fragt seine Mutter ihn. Er will nicht so recht mit der
Sprache raus. Schließlich fragt er: „Glaubst du, dass ich feige bin?“
Sie merkt, wie wichtig ihm ihre Antwort war. Deshalb lässt sie sich
einen Augenblick Zeit zum Überlegen. Dann sagt sie mit Nachdruck: „Nein,
das glaube ich nicht. Ganz und gar nicht.“
Wieder ist es eine Weile still. Sie will
ihn nicht drängen und wartet.
Schließlich sagte er trotzig: „Die sagen
aber, ich wäre feige.“
„Wer? Deine Freunde?“
Er macht eine vage Geste. „Alle.“
„Haben die denn einen bestimmten Grund
dafür?“
„Ja. Ich hab´ den Mirko nicht
verprügelt.“
„Mirko. Ist das nicht der Neue?“
„Ja, der Zigeuner.“
Er weiß, dass sie dieses Wort nicht mag.
Aber im Augenblick lässt sie es so stehen. Stattdessen fragt sie: „Hat
er dich denn geärgert?“
„Nein!“
„Warum solltest du dich dann mit ihm
prügeln?“
„Das ist es ja gerade!“ bricht es nun aus
ihm heraus. „Der hat mir nichts getan. Und den anderen auch nicht. Aber
er ist eben anders. Keiner kann ihn leiden. Und da haben wir eben
beschlossen, dass ihn jeden Tag einer verprügelt. Und heute war eben ich
dran.“
Er merkt, dass sie das erst einmal
verdauen muss. Deshalb fährt er fort: „Also, der Mirko wohnt doch in dem
Haus an dem kleine Weg. Du weißt doch, wo die lange Fabrikmauer auf der
einen Seite ist und auf der anderen Seite die Friedhofsmauer. Da muss
der immer durch. Und da warten wir immer auf ihn. Manchmal versucht der
uns auszutricksen und läuft ganz schnell. Aber wir kriegen ihn immer.
Aber sich mit ihm prügeln darf immer nur einer. Sonst ist das ja unfair.
Wir anderen gucken dann immer nur zu.“
„Und heute warst du also dran.“
Er nickt.
„Aber du hast dich nicht mit ihm
geprügelt.“
„Nein.“
„Und warum?“
„Der ist ziemlich stark. Und ich hab´
nicht so viel Übung.“
„Nicht so viel Übung? Weil ich immer
sage, du sollst dich mit Worten verteidigen, nicht mit Hauen?“
Er nickt.
„Du hattest also Angst. Und deshalb hast
du dich nicht geprügelt.“
Wieder nickt er. „Und jetzt sagen die
anderen, dass ich feige bin.“
Wieder ist es still am Tisch.
Sie überlegt lange. Schließlich sagt sie:
„Das stimmt!“
Überrascht schaut er auf. Damit hat er
nicht gerechnet.
„Du meinst also auch, dass ich feige
bin?“
Sie nickt. Das muss er erst mal verdauen.
„Und du meinst tatsächlich, ich hätte
mich mit dem Mirko prügeln sollen?“
Sie schüttelt den Kopf.
„Nein, nein, das hab´ ich nicht gesagt.“
„Aber du sagst trotzdem, dass ich feige
bin.“
Sie nickt.
„Also, jetzt versteh ich überhaupt nichts
mehr! Was meinst du denn eigentlich?“
„Ach, das findest du schon selbst raus.“
antwortet sie.
Als Peter am nächsten Mittag heimkommt,
sieht er sehr abenteuerlich aus. Sein rechtes Auge ist angeschwollen.
Ein dicker Kratzer läuft über seine linke Wange. Sein Pulli ist
zerrissen. Und sein Knie ist aufgeschlagen. Trotzdem wirkt er ganz
vergnügt und zufrieden.
„Du hast dich also doch geprügelt.“
stellt sie fest.
„Ja, und wie!“ grinst er fröhlich. Bei
dem geschwollen Auge sieht das grauenhaft aus. Aber ihn scheint das
nicht zu beeinträchtigen. Und dann berichtet er stolz: „Zuerst hab ich
versucht, den anderen das mit dem Prügeln auszureden. Aber die haben
mich bloß ausgelacht und gemeint, das sag ich nur, weil ich zu feige
bin. Und als der Mirko dann kam, hat der Uwe sich auf den gestürzt. Der
war nämlich heute dran. Der Uwe ist ziemlich stark. Viel stärker als der
Mirko. Aber dann hab ich dem Mirko geholfen. Zu zweit sind wir ganz gut.
Aber zwei gegen einen geht auch nicht. Da haben die anderen sich auch
eingemischt. Ein paar haben dem Uwe geholfen. Und ein paar haben dem
Mirko und mir geholfen.“
„Und dann?“
„Och, wir waren ziemlich gleich stark.
Irgendwann haben wir dann aufgehört und uns gegenseitig sauber gemacht.
Der Mirko auch. Ich glaub, morgen verprügelt den keiner mehr.“
Gisela Baltes |