„Wie konnte Gott so etwas zulassen?“ Diese
Frage wurde der Tochter des Fernsehpredigers Billy Graham in den USA
nach dem 11. September 2001 gestellt. Und Anne Graham gab eine
außerordentlich bemerkenswerte Antwort: „Ich glaube, dass Gott, genau
wie wir, zutiefst traurig darüber ist. Doch wir müssen eins klar sehen: Seit
Jahren weisen wir Gott aus unseren Schulen, aus unserer Regierung und
aus unserem Leben, und da er ein Gentleman ist, glaube ich, hat
er sich still und leise zurückgezogen. Wie können wir erwarten, dass
Gott uns segnet und schützt, wenn wir doch von ihm verlangen, dass er
uns gefälligst in Ruhe lassen soll?“
Der Gott des Evangeliums, der Gott Jesu,
ist solch ein Gott nicht. Er
will uns nicht in Ruhe lassen, und auch wir sollen ihn nicht in
Ruhe lassen. Jesus lebt ganz in der Gebetstradition seines Volkes
Israel. Und dort begegnen wir einem Gott, der sich in leidenschaftlicher
Liebe nach seinem Volk und nach jedem einzelnen Menschen sehnt. Gott
liegt jeder einzelne Mensch am Herzen. Er geht jedem nach, und lässt
keinen fallen. Gott ruft immer wieder nach dem Menschen.
Wenn Gott dem Menschen so nahe ist, muss
dies nicht immer bequem sein. Denken wir an den Propheten Jona. Er
bekommt einen Auftrag, und rennt weg. Er möchte Gott entkommen. Gott
soll ihn in Ruhe lassen, denn wenn es Gott gibt, dann muss sich etwas
tun. Wem Gott nahe kommt,
bei dem muss sich meist etwas ändern, der bekommt vielleicht
einen Auftrag. Wir aber hören und spüren ihn nicht?
Nein, Gott ruft nicht immer laut und
aufdringlich. Und er ruft auf so unterschiedliche Weise. Wer sich tiefer
mit Jesus beschäftigt, wird in seinem Gewissen spüren, wo Gott ihm nahe
rückt und in welchem Punkt er sein Leben ändern muss. Der Ort, an dem
Gott ruft und spricht, ist das Gewissen. Gott ist uns nahe gekommen und
er bleibt uns nahe. Er lässt uns nicht in Ruhe.
Das
betrifft auch unsere Gesellschaft. Glaubende Menschen müssen sich
einmischen, um Gottes und des Menschen willen. Unsere Welt braucht
glaubwürdige Christinnen und Christen, die anderen zeigen, dass sie von
Gott berührt und bewegt sind. Wer mit dem Anspruch auftritt, Gottes Wort
zu sagen, muss natürlich umso glaubwürdiger sein. Gott ist kein Gott,
der uns in Ruhe lässt, auch die Kirche nicht. Wir brauchen diesen
Gedanken hier nicht konkretisieren. Auch die Kirche darf die Ohren vor
Gottes Anruf nicht verschließen. Dafür muss sie eine betende Kirche
bleiben.
Gott will, dass wir ihn nicht in Ruhe
lassen. Jesus sagt es deutlich. Das Beste, was wir tun können, ist das
Festhalten an ihm. Ihm unser Leben erzählen. Die Welt kann sich zum
Guten wandeln, wenn wir Gott den gebührenden Platz einräumen.
Bischof Dr. Peter Kohlgraf, Mainz |