Eine Kirche, die dem „Zeitgeist“
hinterherläuft, ist für manchen Gläubigen eine Schreckensvision, nicht
selten ist dies ein Totschlagargument gegen jede Neuerung. Bischöfe
werden schnell als zeitgeistig beschimpft, wenn sie sich auf kritische
Anfragen einlassen. Ich behaupte: Die
Kirche und ihre großen Theologen waren immer auch zeitgeistig.
Ich erinnere an die großen Väter der
Theologie aus den ersten christlichen Jahrhunderten (Schriften von
Frauen aus dieser Zeit sind kaum überliefert). Sie wiederholen nicht
einfach biblische Texte, sondern übersetzen sie in die Verstehenswelt
ihrer Zeit und ihrer Umwelt. Das beginnt bereits beim Apostel
Paulus. Im 1. Korintherbrief entwickelt er eine Weisheitslehre und
stellt sie in den Zusammenhang der Verkündigung des gekreuzigten
Christus, obwohl in der Predigt Jesu der Weisheitsgedanke in keiner
Weise vorkommt. Damit macht Paulus die Lehre über Christus
anschlussfähig für die philosophisch Gebildeten seiner Gemeinden. Das
ist mehr als eine Veränderung der äußeren Form, sondern durch die
Begriffe verändern sich Vorstellungen und die Lehre.
In den Jahrhunderten danach wird es eine
jüdisch geprägte Lehre geben, eine von der griechischen Philosophie
herkommende sowie verschiedene Theologien, die ohne ihren kulturellen
Kontext nicht verstanden werden können. Einige Theologen schließen sich
einem späten Platonismus an, andere versperren sich diesem ganz bewusst.
Kurzum: es gibt in diesen Jahrhunderten nicht die eine Form der
christlichen Lehre, sondern verschiedene
Ausformungen, die sich teilweise sogar heftig widersprechen.
Eine Gnadenlehre des Augustinus ist mit der eines östlichen Theologen
(wie etwa des Origenes oder Johannes Chrysostomus) kaum zusammen zu
denken. Im Mittelalter entdecken Theologen den Wert der Philosophie des
Aristoteles, der vorher kaum eine Rolle spielte. Das zeigt, dass
Theologie auch immer durch den Dialog mit dem sogenannten Zeitgeist
entstanden ist.
Natürlich haben Verkündigung und Theologie
nicht einfach gedankenlos intellektuelle Moden bestätigt. Das Evangelium
blieb der Maßstab geistlicher Unterscheidung, aber innerhalb
dieses Rahmens war viel möglich. Und auch das Evangelium selbst ist
vielfältig. Man staunt heute, mit welcher Selbstverständlichkeit in der
Geschichte des Christentums Themen der Zeit aufgegriffen wurden und
Denkweisen und Erkenntnisse der zeitgenössischen Wissenschaft und
Philosophie die Theologie, Verkündigung und persönliche Frömmigkeit
geprägt haben.
Große Berührungsängste kannten
viele Theologen nicht, auch wenn etwa philosophische Strömungen
abgelehnt wurden, die den Gottesglauben oder eine Hoffnung auf
Auferstehung ausschlossen. Es gab Kriterien der Unterscheidung, aber
diese waren sehr weit. Heute beißen sich bestimmte Gruppen an Reizthemen
fest. Wer nicht bestimmte Meinungen
vertritt, ist eben zeitgeistig – und
damit nicht mehr katholisch.
Angesichts des weiten Atems der Tradition
halte ich das für eine armselige Verengung der Botschaft des
Evangeliums. Scheinbar unveränderliche Wahrheiten entpuppen sich bei
genauerem Hinsehen als „Geist“ der entsprechenden Zeit, nicht der
gesamten Tradition. Ängstlichkeit vor neuen Erkenntnissen war – außer in
recht kurzen Zeitspannen – jedenfalls nie wirklich katholisch, auch
nicht die geistige und geistliche Wagenburg. Das heißt nicht, alles
Moderne gut zu finden, aber eben auch nicht dessen automatische
Verteufelung. Katholisch sein heißt auch, Widersprüche
auszuhalten, Neues zu integrieren und
mutig sich dem Gespräch mit der Zeit und ihren Erkenntnissen zu stellen.
Oft wünsche ich mir den Mut zu einem wahren Katholisch-Sein, ohne
Denkverbote und Kleingeistigkeit. Viele Heilige haben es uns vorgemacht.
Bischof Dr. Peter Kohlgraf, Mainz |