Exerzitien mit P. Pius

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Wendemarke

Zweifelsohne: Der 20. Januar 2021 war eine Wegmarke im weltweiten politischen Geschehen. Wenn zwei derart unterschiedliche Präsidenten der Vereinigten Staaten aufeinander folgen, dann dürfte dies weitreichende Folgen nicht nur für das Land, sondern für die globale Entwicklung insgesamt haben. Viele Hoffnungen waren mit diesem Tag und mit dem Amtsantritt des neuen amerikanischen Präsidenten verbunden. Das Wahlergebnis zeigt, dass er und sein Kabinett gefordert sein werden, die vielschichtige Gesellschaft des Landes zu einen. Hätte er mich gefragt, so hätte ich Joe Biden als Wahlkampfmotto empfohlen: „UNITED States of America“. Die offizielle Bezeichnung seines Landes wurde für ihn jedenfalls zur Herausforderung und damit zum Programm.

 

Zugleich ist der Amtswechsel im Weißen Haus für mich Anlass, Gewissenserforschung zu betreiben: Welcher Dynamik gebe ich – gerade angesichts der großen Herausforderungen unserer Tage – Macht in meinem Herzen?

 

Gilt für mich die Devise „Wir zuerst“ – wer immer auch dieses „Wir“ ist? Oder paart sich das Verantwortungsbewusstsein für die mir anvertrauten Menschen mit dem Anspruch, mit meinem Handeln auch Verantwortung zu tragen für jene, die jenseits meines Milieus, meiner Nation, meiner Religion leben? Zum Profil des christlichen Weltbildes gehört unverzichtbar die Überzeugung, dass bei aller gestuften Verantwortung sowohl die Nächste als auch der Fernste mir Schwester und Bruder sind.

 

Reduziere ich meine Erkenntnisse auf die Zeichenzahl einer Twitter-Nachricht? Oder bin ich bereit, kritisch und differenziert hinzuschauen, mit dem Anspruch tiefer zu verstehen, wie komplex die großen Themen dieser Welt miteinander verwoben sind? Eine demokratische Kultur lebt davon, dass in ihr genügend mündige Bürgerinnen und Bürger bereit und fähig sind, sich den großen Fragen dieser Welt in der ihnen innewohnenden Komplexität zu stellen.

 

Schließlich: Weiß ich um meine Verletzungen und Kränkungen? Bin ich bereit, solche auch bei meinem Gegenüber zu erkennen? Nehme ich sie ernst? Suche ich nach Wegen der Heilung und der Integration? Extremisten unterschiedlicher Couleur zielen gerne auf die (vermeintlichen oder tatsächlichen) Kränkungen ihrer Klientel. Sie tun dies jedoch weniger, um zu integrieren. Vielmehr nutzen sie diese als Triebkraft für Polarisierungen.

 

Der 20. Januar 2021 zeigt uns mit den notwendigen Verlängerungen und Verschärfungen der Maßnahmen gegen die Pandemie, dass wir noch einen langen Atem brauchen. Dieses langen Atems bedürfen wir auf unterschiedlichen Bewährungsfeldern – gerade auch da, wo wir herausgefordert sind, an einer menschenwürdigen Kultur zu arbeiten.

 

Der 20. Januar 2021 ist so für mich Anlass, um den Atem Gottes, die Kraft Gottes den Heiligen Geist zu beten. Dabei denke ich nicht nur an den neuen Mann im Weißen Haus und diejenigen, die mit ihm zusammenarbeiten. Mein Gebet gilt auch den vielen in den grauen Häusern, in den Hütten, in den Kliniken und wo auch immer, dass wir die Kraft haben, unsere Herausforderungen zu bestehen – und letztlich daran zu wachsen und zu reifen.

 

 

Bischof Dr. Michael Gerber, Fulda

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