Viele Menschen klagen darüber, dass sie
Gott nicht erfahren, dass sie trotz aller Versuche, regelmäßig zu
meditieren und zu beten, nichts von Gott spüren. Ich frage sie dann
immer, ob sie sich denn selbst spüren, ob sie mit sich selbst in
Berührung sind. Nicht nur das Gottesbild und das Selbstbild hängen eng
miteinander zusammen, sondern auch die Gotteserfahrung und die
Selbsterfahrung. Wer sich selbst nicht spürt, kann auch Gott nicht
spüren. Wer von sich selbst keine Erfahrung hat, wird auch Gott nicht
erfahren.
Eine Frau möchte einen geistlichen Weg
gehen. Aber ihr Gebet ist leer. Sie hat früher einmal Gott intensiv
gespürt, aber jetzt fühlt sie nichts mehr. Im Gespräch wird deutlich,
dass sie viele Bereiche ihrer eigenen Seele ausklammert. Sie möchte
nicht über ihre gottlosen Seiten, über ihre Aggression und Sexualität,
über ihre Jugendträume nach Familie und Kindern nachdenken. Sie meint,
sie habe diese Träume längst verarbeitet und sei mit ihnen fertig. Sie
möchte sich selbst in ein ganz bestimmtes Bild einer spirituellen Frau
zwängen.
Alles andere hat sie vor dem Auge ihrer
Seele verschlossen. Im Gespräch wird ihr klar, warum sie Gott nicht
spürt. Sie ist nicht in Berührung mit der eigenen Seele. Sie hat sich
selbst abgeschnitten von den weniger frommen, dafür aber umso
lebendigeren Seiten ihrer Seele, von ihrer Lust zu reisen, zu malen, zu
dichten. All diese Seiten hat sie ihrem spirituellen Selbstbild
geopfert. Aber nun fehlen sie ihrer eigenen Lebendigkeit.
Anselm Grün |