Zwei Männer gingen zum Tempel
hinauf um zu beten; der eine war ein Pharisäer, der andere
ein Zöllner. Der Zöllner lehnte sich hinten an eine Säule,
verschränkte die Arme und betete: Gott, ich mache mir selbst
nichts vor und will auch dir nichts vormachen. Dass ich
nicht so bin, wie ich sein sollte, das weiß ich selbst. Aber
das Leben besteht nun mal aus Kompromissen. Niemand kann aus
seiner Haut, und du als mein Schöpfer wirst dir bei mir
schon etwas gedacht haben. Ich weiß, dass du nicht so
kleinkariert denkst wie unsere Frommen oder auch wie dieser
Pharisäer dort. Das sind ja oft die größten Heuchler. Ich
bin kein Heiliger, aber ich habe auch nie so getan, als ob
ich einer wäre. Mein Grundsatz lautet: Ich bin ich. Und wenn
mich jemand anders haben will, so ist das sein Problem,
nicht meines. So bitte ich dich: Halte weiter deine Hand
über mich, und lass mich sein, wie ich bin.
Der Pharisäer aber bedeckte
sein Haupt mit dem Gebetsmantel, wie es den Frommen
Vorschrift war, und redete zu Gott in seinem Herzen: Gott,
es ist ein mühsames Geschäft, als frommer Pharisäer zu
leben. Manchmal möchte ich einfach so sein wie die anderen
Menschen, die Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie
dieser Zöllner dort. Ich fast zweimal in der Woche und gebe
dem Tempel den zehnten Teil meines ganzen Einkommens. Und
was habe ich davon? Manchmal, an Tagen wie heute, kommt mir
das alles so sinnlos vor. Laufe ich nur alten Gewohnheiten
nach? Spiele ich nur eine Rolle? Treibt mich vielleicht
meine zwanghafte Charakterstruktur zu meinem Handeln, meine
Angst etwas falsch zu machen, mein überempfindliches
Gewissen? Ich bin ratlos. Beten kann ich heute nicht, auch
wenn ich so tue als ob, damit die Leute nichts merken. Lass
mich nur ein wenig ausruhen bei dir und schweigend verweilen
in deiner Nähe.
Etwa zur gleichen Zeit
verließen beide den Tempel. Der Zöllner grinste verstohlen,
als der Pharisäer verhüllten Hauptes an ihm vorüberschritt.
Quelle: unbekannt |