Jesus betete, und als
er das Gebet beendet hatte, sagte einer seiner Jünger zu
ihm: „Herr, lehre uns beten!“ (Lk 11, 1). So etwas
Verrücktes, möchte man denken. Denn die diesen Wunsch
äußern, sind gläubige Mensen in der Nachfolge Jesu, die
wahrscheinlich das ganze jüdische Gebetbuch, nämlich die
Psalmen, auswendig kannten.
Wie kommen sie also dazu,
Jesus aufzufordern, sie beten zu lehren? Offenbar haben sie
ihn beim Beten beobachtet. Dabei muss ihnen aufgegangen
sein, welch einmalige Beziehung Jesus zum göttlichen Vater
unterhielt. Und nun wollten sie in diese Gottesbeziehung mit
hineingenommen werden. Daher der Wunsch: Lehre uns ein
neues, ein ganz anderes Beten, als wir es bisher gewohnt
waren. Lehre uns so beten, wie du betest!
Und was tut Jesus? Er spricht
seinen Jüngerinnen und Jüngern ein paar kurze Sätze vor, die
ihnen dem Inhalt nach bereits bekannt sind. Mit anderen
Worten, er lehrt sie gar kein neues Gebet. Vielmehr greift
er auf die in der Hebräischen Bibel enthaltene
Glaubensüberlieferung zurück, wo sich zahlreiche Parallelen
finden. Jesus hat Gott schon früh als seinen Vater
bezeichnet. Die Heilung seines Namens, das Kommen des
Reiches, die Unterordnung unter Gottes Willen – das alles
galt als selbstverständlich. Die Bitten ums Brot, die
Vergebung der Schuld, um Bewahrung vor Versuchung und
Prüfung – sie waren in Israel bekannt. Und der Schluss des
Vaterunsers.
Jesus lehrt die Seinen kein
neues Gebet. Aber er lehrt sie auf neue Weise zu beten.
Irgendwie verhält es sich mit dem Vaterunser wie mit einem
Bild, das jahrzehntelang in einer dunklen Ecke hing und dem
man kaum Beachtung schenkte. Eines Tages holt jemand dieses
Bild hervor, staubt es ab und reinigt es und hängt es an
einen Ort, wo Licht darauf fällt – es ist nicht mehr das
gleiche Bild. Man schaut es mit ganz anderen Augen an und
sieht jetzt erst, was da eigentlich dargestellt ist: ein
Gott, der mit allen Fasern seines Herzens an den Menschen
hängt und ihnen all das schenken möchte, was sie zu einem
erfüllten Leben brauchen.
Josef Imbach
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