Das Bild gehört zu einem
Evangeliar, das die Äbtissin Hitda um das Jahr 1020 für ihr
Kloster, eine Benediktinerinnenabtei (adeliges Frauenstift),
zu Meschede in der Malerschule bei St. Gereon, Köln,
anfertigen ließ.
Die hier dargestellte Szene
mit dem Seesturm (vgl. Mk 4, 35 - 41; Mt 8, 23 - 27;
Lk 8,22 - 25) ist wegen ihrer unvergleichlichen Dynamik eine
der
bekanntesten und beeindruckendsten Miniaturen dieses
Evangeliars.
Die Darstellung ist von einer
schwarzen und weißen Leiste sowie von einem breiten
blaugrauen, goldmarmorierten Rahmen umgeben.
Wir sehen ein Boot, einer
Nussschale gleich, voller Köpfe mit großen Heiligenscheinen,
mitten im Blau des Wassers, das sich über das ganze Bild
ausbreitet.
Links oben, das Ende des
Bootes, sieht aus wie eine gekrümmte Schwanzflosse, die nach
den Tauen und dem vom Sturm geblähten Segel greift.
Rechts unten, ein
Drachenkopf, der über
den Bildrahmen hinausstrebt. Voller Entsetzen und mit
aufgerissenen, großen Augen schaut das Ungeheuer nach unten
ins wogende Meer, das Maul weit aufgesperrt, als wolle es
alles, was in die Quere kommt, verschlingen.
Ein dämonischer Drache, der
sich in bodenlose Tiefe stürzt.
Die Bewegung des Sturzes geht
von oben links nach unten rechts. Das Meer wird zum
drohenden Abgrund.
Das Schiff wirkt wie der
aufgeschlitzte Leib eines wildgewordenen Fisches, der sich
mit schlagender Schwanzflosse samt seiner Fracht nach unten
in unauslotbare Tiefen stürzt.
Am Bug des Bootes ragen aus
Löchern sechs blutrote Ruder, dünne Stangen seitlich nach
unten hervor. Sie machen einen zerbrechlichen, hilflosen
Eindruck.
Sie greifen nicht mehr.
Sinnlos starren sie ins Leere. Mit diesem Gestänge ist das
wogende Meer nicht zu bezwingen.
Im vorderen Teil des Schiffes
erhebt sich der Mast. Er ist leicht nach vorn gebeugt. Der
Mast ist dünn. Jeden Augenblick kann er zerbrechen.
Das purpurweiß und
goldverzierte Segel – groß und schwer – flattert wie wild,
klatscht und rattert vom Sturm gezerrt durch die Luft und
bläht über die Köpfe der Bootsinsassen dahin.
Wie die losen Taue zeigen,
hat sich das Segel losgerissen und unterstreicht zusammen
mit den untauglich herabhängenden Rudern, dass das Boot in
Sturm und Wellen
funktionsuntüchtig
geworden ist.
Aus dem Bauch des vom Sturm
gepeitschten Schiffes ragen die zwölf Apostel und die
übergroße Halbfigur des schlafenden Jesus hervor. Während
die Jünger im Profil dargestellt sind, ist Jesus durch seine
Vorderansicht hervorgehoben
Die Männer
im Boot ducken sich zum Großteil ängstlich und starren wie
gelähmt dem drohenden Unheil, dem totbringenden Verderben
entgegen.
Im Heck des Schiffes sind
links drei weiß und grau gefärbte Apostelgesichter zu sehen.
Sie scheinen voll Angst und Entsetzen auf den schwankenden
Mast und das losgerissene, zerfetzte und wie wild flatternde
Segel zu starren. Von drei weiteren Aposteln sieht man nur
den rothaarigen Schopf und ein Stückchen die Stirn.
Als siebter von links
erscheint – vom Kreuznimbus Jesu angeschnitten – das Gesicht
eines in Seitenansicht gegebenen dunkelhaarigen Apostels.
Auch er blickt mit sorgenvollem Nachdenken zum
sturmgeblähten Segel auf.
Während vom Großteil der
Apostel nur die Köpfe zu sehen sind, ragt der dritte von
rechts im blaugrauen Mantel hervor. Er hantiert am Mast und
versucht verzweifelt die Segel doch noch in Griff zu
bekommen. Es ist – in exponierter Stellung – wohl Petrus,
der Fischer, der Fachmann zur See, erkennbar an seinem
weißen, kurzen Haupt- und Barthaar. Er müht sich jedoch
vergeblich. Die Taue sind gerissen. Das Schiff ist ohne
Führung. Das Ziel ist entschwunden, die Fahrtrichtung
unbestimmbar, die Bedrohung riesengroß.
Die anderen im Boot wirken
ratlos, tatenlos, resigniert.
Hilflos sind sie der Macht
des Sturmes und der Gewalt des Meeres ausgeliefert, der
Katastrophe preisgegeben, verloren.
Was sollen sie auch tun gegen
diese Urkräfte der Natur? Entsetzen und Angst stehen auf
ihren Gesichtern. Die meisten schauen bzw. starren, die
Augen weit aufgerissen, nach vorn oder nach oben in den
Orkan.
Was kommt auf uns zu? Wohin
werden wir geworfen?
Das Boot ist voller
Heiligenscheine, sie wirken wie ein Schutzschild – und
trotzdem voll furchtsamer Minen. So viel Frömmigkeit und
Heiligkeit – und trotzdem so entsetzte Gesichter, so
hoffnungslose
Gestalten.
Was können sie auch erwarten
in diesem Sturm, in der kochenden See, wenn alle Mittel
versagen, alle Stricke reißen,
die eigenen Kräfte am Ende
sind, wenn nichts mehr hilft?
Ein Boot voller
Heiligenscheine – und so wenig Glaube!
So große Angst und
Verzweiflung – und so wenig Vertrauen!
Was ist erst mit uns, die wir
in Sturm und schäumender See, aber ohne Heiligenschein, im
Schiff unseres Lebens, im Schiff unserer Gesellschaft oder
im Schiff der Kirche das Meer unserer Tage befahren?
Beständig in Krise; Bedrängnissen, Nöten und Gefahren
ausgeliefert?
Und wo ist Gott? Warum
kümmert er sich anscheinend nicht?
Lässt ihn unsere Not kalt?
Ist ihm mein Schicksal gleichgültig?
Sieht es nicht immer wieder
so aus, als würde er schlafen?
Liegt ihm nichts daran, dass
wir zugrunde gehen?
„Herr, kümmert es dich nicht…?“
Warum tust du nichts? Warum
schweigst du? Warum streckst du deine Hand nicht aus über
Sturm und Meer, so dass die Wogen sich glätten, dass der
Sturm sich legt,
dass wir nicht stürzen und untergehen? Wo ist deine Hilfe,
deine Macht, so dass die Not vergeht und Ruhe und Frieden
einkehren?
Genau in der Bildmitte fällt
ein jüngerer, bartloser Apostel auf, der fünfte von rechts.
Er schaut als einziger in die andere Richtung. Er wendet
sein noch ganz vom Schrecken gezeichnetes Gesicht, dem zu,
der mit im Boot ist und schläft. Kehrt er um? Besinnt er
sich auf die Gegenwart des Herrn?
Fast bleibt dieser äußerlich
so unscheinbare Vorgang der „Umkehr“ vom Betrachter
unbemerkt, denn der Jünger wird nahezu ganz von dem vor ihm
Stehenden verdeckt und von dessen Nimbus miteingerahmt.
Es mag Johannes sein. Seine
linke langfingrige Hand hat er zaghaft auf die Schulter Jesu
gelegt. Sucht er Schutz und Halt bei ihm? Ist seine Hoffnung
der Herr? Traut er ihm Ausweg, Hilfe, Rettung zu? Ist er der
Einzige, der auf ihn sein Vertrauen setzt, der Einzige, der
glaubt, dass seine Gegenwart genügt, ob wachend oder
schlafend?
Oder will er den Herrn
wecken? Ist auch er in Angst und Panik?
„Kümmert es dich nicht, dass
wir zugrunde gehen?“
Merkst du nicht, was hier vor
sich geht? Wie kannst du schlafen? Hast du uns vergessen? Wo
bleibt dein rettender Arm, wo dein allmächtiges Wort?
„Wach auf, warum schläfst du, o Herr? Erhebe
dich! Verstoß uns nicht für immer!“
mag er mit dem Psalmenbeter rufen (Ps 44, 24).
Das Schlimmste ist vielleicht
noch nicht einmal der tödliche Ansturm der Winde, die steile
Fahrt in den Abgrund, sondern dass ER, der sie in dieses
Boot geführt hat, dass ER schläft.
Es ist als berührte ihn das
Chaos gar nicht. Es ist, als ginge ihn das alles gar nichts
an.
Welch
ein Kontrast: Die Jünger in größter Erregung, angstvoll und
verzweifelt. Und in der Mitte der Herr seelenruhig
schlafend.
Ihn scheint das alles nichts
auszumachen: nicht der Sturm, der rast, nicht das Boot, das
in die Tiefe stürzt, nicht die Jünger, die Todesängste
ausstehen. ER schläft.
Übergroß ist seine Gestalt,
übergroß der Nimbus mit den Strahlen des Kreuzes. Schwer
liegt sein rechter Arm am Bootsrand auf einem Kissen. Sein
Haupt ruht darauf. Arm und Hand sind mit einem langen Tuch
verhüllt, dessen Ende weit und schlaff herabhängt, als könne
der Sturm hier nicht angreifen.
Die ganze Erscheinung Jesu
ist ein Bild der Geborgenheit, der Unverletzlichkeit, ein
Bild unwahrscheinlicher Ruhe und großer Gelassenheit.
Der sorglose Herr ist in all
der Gefahr und Angst ringsum wie ein Fels in der Brandung,
wie ein ruhender Pol mitten in Aufruhr und Untergang. Mit
seiner souveränen Ruhe und Sicherheit, mit seinem
majestätischen Schweigen stellt er die absolute Herrschaft
Gottes dar und bezeugt, was der Beter in Psalm 93 kundtut:
„Mächtiger als die Stimme der
großen Wasser,
mächtiger als die Brandung
des Meeres,
mächtig ist in den Höhen der
Herr.“
Der schlafende Jesus im Sturm
ist ein Bild für jene Hingabe an den Vater, für jenes
Eins-Sein mit seinem Willen, für jene Geborgenheit in Gott,
die sich ohne Angst ganz überlässt und anvertraut. Nur ein
Kind, ein sehr kleines Kind, kann in einem Sturm ganz ruhig
liegen und schlafen.
Jesus bleibt gelassen, er ist
ruhig, weil er ganz tief getragen, gehalten und geborgen ist
vom Vertrauen auf Gott.
Dem friedlich ruhenden
Meister auf der einen Seite entspricht auf der anderen Seite
der ragende Mast, der mit seiner Querstange ein Kreuz
bildet. Wie der Sturm sich an dem schlafenden Christus
bricht, so auch am Kreuz, dem Zeichen der Liebe.
„Gewaltige Wasser vermögen die Liebe nicht
auszulöschen und Ströme können sie nicht überfluten“
(Hld. 8, 7).
Die ersten Christen sahen im Kreuz bereits
das Siegeszeichen und beteten: „Ave
crux, spes unica.“ „Wir grüßen dich, heiliges Kreuz, du bist
unsere einzige Hoffnung.“
Wer immer sich an diesem
Kreuz festhält wird wie Jesus, mit Jesus und durch Jesus
alle Stürme bestehen, am Ende sogar den Tod. „Tod, wo ist
dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel? – Verschlungen ist
der Tod im Sieg“, im Ostersieg Jesu Christi.
Was macht schon ein
Schiffbruch, wenn Gott der Ozean ist?
Die Macht des Seeungeheuers
ist begrenzt. Es schnappt nach Luft und ist eingefügt in den
festen Bildrahmen, der dem Ganzen Halt gibt. Das Chaos ist
seiner tödlichen Macht beraubt.
Golddekor und Heiligenscheine
lassen leicht hinwegsehen über das einzige Wort aus drei
Buchstaben, das auf diesem Bild zu finden ist. Aber man muss
schon genau hinschauen, um im schreckerfüllten Getriebe
diese Feinheit wahrzunehmen.
Das Haupt des Herrn umgeben –
im goldenen Nimbus – drei lateinische Buchstaben: L U X =
Licht.
Der Maler sieht in Jesus
nicht mehr nur einfachhin den Wanderprediger und „Meister“,
als den seine Zeitgenossen ihn während seines öffentlichen
Auftretens wohl verstanden haben, sondern er sieht Jesus als
das „Licht der Welt“, als den bereits am Kreuz
erhöhten und durch seine Auferstehung von Gott bestätigten
„Herrn aller Mächte und Gewalten“, den die
nachösterliche Gemeinde als ihre „Kyrios“ anruft.
Wer ihm nachfolgt, wandelt
nicht in der Finsternis, er wird das Licht des Lebens haben.
Jesus ist das Licht in der
Finsternis, das Licht des Glaubens, das dem Kleinglauben der
Jünger erst noch voll aufgehen und aufstrahlen und
einleuchten muss. Einerseits gehören sie schon zum erhöhten
Herrn und haben Gemeinschaft mit ihm, was durch das Gold der
Nimben (Heiligenscheine) angedeutet wird, andererseits haben
sie noch Angst und fürchten sich vor dem Untergang.
Wo sind wir im Bild, ich? Wo
habe ich meinen Platz im Boot?
-
Zusammengepfercht im Bauch des Schiffes?
-
Starr verängstigt und wie gelähmt
Ausschau haltend vorne auf der Ruderbank?
-
Hastig am Mastbaum hantierend und
versuchend doch noch alles in den Griff zu kriegen?
-
Uns zum Herrn hinkehrend, umkehrend, bei
ihm Zuflucht, Schutz und Hilfe suchend?
-
Oder vorwurfsvoll ihn weckend und wach
rüttelnd?
In jeder Rolle können wir uns
an die kleinen und großen Stürme unseres Lebens erinnern, an
physische und psychische Bedrohungen, an Anfechtungen,
Gefahren und Ängste.
Es gibt kein Leben ohne Leid
und Not, ohne Gefahr und Angst.
Es gehört zum menschlichen
Dasein, dass man hin und wieder nicht nur schwer zu rudern
hat, sondern dass einem das Wasser bis zum Hals steht, dass
die Segel zerreißen, die Taue nicht greifen, dass nichts
mehr zu steuern und manövrieren ist, dass man ziellos,
wehrlos treibt, dass man wie vor einem Abgrund steht und das
Leben einen verschlingen möchte wie ein Ungeheuer.
Unserem Lebensschiff und dem
„Schiff, das sich Gemeinde nennt“, ist die Fahrt
durch die Welt und Zeit nicht ohne Ängste und Stürme
garantiert. Und selbst für den „gläubigsten Christen“ (mit
und ohne Heiligenscheine) hat das Wasser keine Balken,
sondern oft tiefe Abgründe. Der Glaube, Christsein,
verspricht uns nicht ein sorgenfreies Leben. Gott bewahrt
nicht vor allem Leid, aber in allem Leid.
Doch immer und überall können
wir tun, was die Jünger tun.
Wir können uns in Not und
Gefahr, in Bedrängnis und Angst an den Herrn wenden. Gott
ist da, auch wenn er manchmal arg fern und wie „abwesend“ zu
sein scheint.
Wissen wir, wo Hilfe zu
finden ist, wenn die Stürme toben und die Wellen hoch gehen
in unserem Leben?
Hoffend und vertrauensvoll
können wir beten:
„O Gott, komm mir zu Hilfe!
Herr, eile mir zu helfen!“
Jesus lässt sich wecken und
rufen.
„Da stand er auf, drohte dem Wind und sagte
zu dem See: Schweig, sei still! Und der Wind legte sich und
es trat völlige Stille ein.“
(Mk 4, 39)
Christus ist im Boot, auch
wenn er zu schlafen scheint.
Wo wir am Ende sind, fängt ER
an.
Wo uns Untergang erfasst,
steht ER auf.
Auf die Frage der Jünger
„Herr, kümmert es dich nicht…“, die eher ein Aufschrei ist,
antwortet Jesus mit einer Gegenfrage: „Warum habt ihr
solche Angst? Habt ihr keinen Glauben?“ (Mk 4, 40) Die
Bewältigung und Überwindung von Angst und Not wird zu einer
Frage des Glaubens, des Vertrauens.
Auch die Evangelisten
Matthäus und Lukas stellen es so dar:
„Warum habt ihr solche Angst, ihr
Kleingläubigen?“
heißt es bei Matthäus (8, 26), und bei Lukas: „Wo ist
euer Glaube?“ (8, 25)
Zuletzt ist die Geschichte
von der Stillung des Seesturms Verheißung. Im neuen Himmel
und auf der neuen Erde wird es – bildlich gesprochen – das
stürmische, den Menschen bedrohende Meer nicht mehr geben,
sondern nur noch den Strom des Wassers, des Lebens, der vom
Thron Gottes und des Lammes hervorfließt.
Bis zu dieser Vollendung des
Heils sind wir angehalten zu vertrauen, dass Jesus uns und
seine Kirche in der Kraft des Heiligen Geistes sicher durch
die Wogen und Abgründe der Zeit führen wird. Und dass er uns
in aller Angst, auch in der Todesangst, nahe sein wird, dass
er uns halten wird, damit wir sicher das Ziel all unserer
Wege und Fahrten erreichen, das andere, jenseitige Ufer, den
ersehnten Hafen, die ewige Geborgenheit bei ihm.
„Der Herr ist mein Licht und
mein Heil,
vor wem sollte ich mich
fürchten?
Der Herr ist die Kraft meines
Lebens,
vor wem sollte mir bangen?
Hoffe auf den Herrn und sei
stark!
Hab festen Mut und hoffe auf den Herrn!“
(Ps 27)
Beachten Sie auch die Predigt
"Der
Sturm auf dem See" zur Bibelstelle
Mk 4, 35 - 41 |