Exerzitien mit P. Pius

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"Er sah ihn und ging vorüber"

(Bildmeditation zu einem Holzschnitt von Paul Reding [1963])

Vier Menschen sind zu sehen. Und ein Weg, der sich von der Bildmitte oben her weitet und nach unten zum Betrachter hin immer breiter wird.

 

Zwei Personen – im Vordergrund groß dargestellt – befinden sich auf dem Weg, schreiten aus, gehen ihrem Ziel entgegen.

 

Die beiden anderen – kleiner dargestellt – befinden sich abseits des Weges.

Der eine der beiden bückt sich zum anderen, der auf dem Boden liegt und Hände und Beine von sich streckt.

 

Links und rechts vom Weg: Dunkelheit.

Die beiden in der Dunkelheit aber sind ganz hell. Hell ist auch der Weg.

Die beiden auf dem Weg aber sind dunkel.

 

Das ist nicht nur wegen der Holzschnitt-Technik so.

Ein Holzschnitt lebt ja von dem Gegensatz hell-dunkel.

Der Kontrast ist auch begründet von der Geschichte, die das Bild erzählt.

Es handelt sich um das Gleichnis Jesu vom barmherzigen Samariter.

 

Der Weg ist der von Jerusalem nach Jericho.

Ein Mensch ist auf diesem Weg von Räubern überfallen, ausgeplündert und ganz übel zugerichtet worden.

Zwei gehen an dem halbtot Daliegenden vorbei.

Ein Dritter unterbricht seine Reise, wendet sich ihm zu und leistet erste Hilfe.

 

Von den beiden im Vordergrund, die den Halbtoten bereits passiert haben, kommt der Hintere direkt auf uns zu, der andere biegt gerade ab.

 

Finstere Gestalten sind es. Ohne Arme und Hände. Die Gesichter und Beine sind nur angedeutet.

 

Jeder geht für sich allein, jeder ist mit sich beschäftigt, jeder nur auf sich bedacht.

Sie haben den unter die Räuber Gefallenen – so sagt es das Gleichnis ausdrücklich – liegen sehen – und sind an ihm vorbeigegangen.

 

Was geht in den beiden vor sich?

Ihre Haltung verrät ihre Gesinnung.

Untereinander ohne Kontakt und ohne Beziehung gehen die beiden am Elend vorbei.

Sie verlassen die Mitte des Weges und weichen zur Seite hin aus.

Der Priester und der Levit – so werden sie im Gleichnis bezeichnet –  zwei Kleriker also, die schon von Berufs wegen Gott sehr nahe sein müssten – sie sehen nur das, worauf sie zulaufen.

Mit starren Gliedern und ausdrucklosen Gesichtern sind sie an dem Schwerverletzten vorbeigegangen. Gleichgültig trotten sie hintereinander her.

 

Ob sie nicht daran gedacht haben zu helfen? Was hindert sie?

Denken sie an „verlorene Zeit“? Wollen oder müssen sie unbedingt pünktlich sein?

Dürfen sie als „Amtsträger“ und „Gesetzesdiener“ sich nicht unrein machen?

Ist den beiden „Gottesmännern“ der Gottesdienst wichtiger als der Dienst am Nächsten, das „Opfer“, die Liturgie, wichtiger als Barmherzigkeit?

Ob ihnen nicht der Gedanke kam, wie es wäre, wenn sie selbst unter die Räuber gefallen wären?

 

Zwischen den beiden im Hintergrund besteht Beziehung. Sie sehen sich gegenseitig.

Der Samariter beugt sich zum halbtot Daliegenden hinab und streckt seine Arme nach ihm aus. Der Schwerverletzte am Boden hebt leicht seinen Kopf.

Fremde Hilfe kommt ihm entgegen. Er darf auf Rettung hoffen. Er ist nicht verloren.

 

Die beiden im Vordergrund haben das „Lästige“ und „Peinliche“ bereits hinter sich gelassen, abgehakt.

Oder rumort und gärt es noch in ihnen? Plagt sie das schlechte Gewissen?

 

Beide Gestalten sind „Typen“ die es zu allen Zeiten und an allen Orten gibt.

Können wir in ihnen unserer eigenen Hartherzigkeit ins Gesicht schauen?

Begegnen wir in ihnen unserem eigenen Egoismus, unserer Härte und Kälte, unserer eigenen Mitleidlosigkeit?

 

Der Vordere steht groß und breitbeinig auf der Straße.

Das Schicksal des unter die Räuber Gefallenen berührt ihn nicht.

Im Übrigen ist er gerade dabei, sich wieder in die Mitte der Straße einzuordnen. Lächelt er sogar?

Vermutlich würde er nochmals bis an den äußersten Straßenrand ausweichen, wenn er sich dadurch den sauberen Anzug und die weiße Weste bewahren könnte.

Sich ja nicht die Hände schmutzig machen! Ja keine Scherereien! Bloß keine Zeit verlieren!

 

Der Hintere der Beiden läuft immer noch an der Außenkante des Weges.

Die Schultern hat er hochgezogen. Er wirkt verkrampft und steif.

Verschlossen und schuldbewusst schleicht er hinter dem anderen her.

Seine Beine sind nur angedeutet. Die Füße fehlen ganz.

Ist es ein Mann ohne Charakter, ohne eigenen Standpunkt? Fehlt ihm die Bodenhaftung, die Standfestigkeit?

Beruft er sich auf seinen Vorgänger? Denkt er (der Levit): „Der hat’s auch so gemacht? Wenn er (der Priester) vorbeigeht, warum nicht auch ich“?

 

Keiner der beiden schaut nach rechts oder links.

Versuchen sie das Gesehene, das Geschehene zu verdrängen?

 

Das Gesicht des Hinteren ist zweigeteilt. Drückt es einen inneren Zwiespalt aus?

Ist er innerlich noch stärker als sein Vordermann mit dem Erlebten beschäftigt?

Sein Blick geht nach unten. Schämt er sich vielleicht doch?

Würde er ein zweites Mal anders handeln?

Auch er war unfähig den Nächsten als Nächster zu sehen.

Vor allem war er unfähig, selbst Nächster zu sein.

 

Ausgerechnet der Samariter, ein Ausländer, ein halber Heide, ein Ketzer, lässt sich von fremder Not berühren, wendet sich dem, der Hilfe braucht zu, tut, was er kann, investiert Zeit und Geld, handelt selbstlos und barmherzig und wird so zum Nächsten für den, der gelyncht und zur Strecke gebracht wurde und der in seinem erbärmlichem Zustand nichts mehr braucht als Hilfe und Rettung.

 

Nirgends steht, dass der unter die Räuber Gefallene ein besonders liebenswerter Mensch war.

Es gibt Menschen, die sind gar nicht sympathisch, ja geradezu unausstehlich.

 

Es wird nicht einmal erwähnt, ob der Überfallene, Ausgeraubte, Schwerverletzte, dem Hilfe zuteilwurde, sich bedankt hat.

Seine menschlichen Eigenschaften stehen für Jesus nicht im Vordergrund.

Nur das ist von Bedeutung, dass er ein Mensch war, der aus eigener Kraft nicht mehr hoch- und davonkam.

 

Und nirgends steht, dass der Samariter begeistert war, als er den Hilflosen sah.

Er war ja unterwegs. Er hatte etwas vor. Er wollte auch ein Ziel erreichen.

Dass er jetzt aufgehalten wurde, sich um einen anderen kümmern musste, kam ihm durchaus quer.

Das war ihm wahrscheinlich gar nicht recht. Das kostete Zeit – und wie sich dann herausstellte – auch Geld.

 

Vielleicht hat er sich sogar geärgert, hat bei sich gedacht:

So ein Mist! Dass das ausgerechnet mir wieder passiert! Wäre ich doch zwei Stunden früher gekommen, dann hätte er noch nicht dagelegen (aber vielleicht er selber?), oder zwei Stunden später, dann hätte sich jemand anders um diesen da kümmern müssen (aber vielleicht wäre dann alle Hilfe zu spät gekommen?).

 

Auch dieses Mannes Empfindungen stehen nicht im Vordergrund.

Für Jesus ist an ihm wichtig, wie er reagiert, dass er reagiert auf das, was ihm begegnet, was er sieht, in dem Moment, wo er zufällig des Weges kommt und auf einen stößt, der ohne eigene Schuld grausam zugerichtet wurde.

 

Die Frage Jesu am Schluss des Gleichnisses klingt unerwartet.

Der Gesetzeslehrer wollte wissen: „Wer ist mein Nächster?“

Jesus formt die Frage um und sagt: „Wer von den Dreien hat sich als Nächster dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde?“

 

Mit anderen Worten: Für Jesus geht es nicht darum den „Nächsten“ zu definieren und theoretisch darüber zu diskutieren, sondern im entscheidenden Augenblick selber Nächster zu sein und als Nächster zu handeln. Das „Handeln“ steht im Vordergrund. „Handle so wie der Samariter gehandelt hat und du wirst leben!“

 

Die christliche Tradition hat sehr früh den Samariter mit Jesus identifiziert. Das hat einen guten Sinn.

Immer wieder lesen wir von Jesus, dass er Mitleid hatte mit Kranken und Leidenden, dass er sich – wie auf unserem Bild – hinabbeugte, sie berührte und aufrichtete.

 

So kniet Jesus vor uns als Heiland aller Menschen, als der „Nächste schlechthin“, der jedem nahe ist, der seine Hilfe braucht, der uns geliebt und sich für uns hingegeben hat.

Und er kniet vor uns als unser Lehrer und Meister, der uns zeigt, was Liebe ist, der uns beibringt, wann und wie man Barmherzigkeit praktisch lebt und konkrete Liebe übt.

Und er sagt uns: Lass dich einfach von der Not anderer ansprechen! Lass dich von ihrem Leid berühren! Hab Mitleid mit denen, die ganz unten sind, am Ende und die von allein nicht mehr hochkommen! Hilf, wo Hilfe nötig ist! Schau über die beiden herzlosen Kirchenmänner im Vordergrund hinweg! Hefte deinen Blick auf den Samariter, auf mich, Christus! Und dann geh und handle genauso!

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