HINFÜHRUNG
Seit ca. 40 Jahren begleitet
mich ein Bild aus dem 6. Jahrhundert nach Christus.
1974 bin ich diesem Bild als
junger Kapuzinerstudent zum ersten Mal begegnet, und zwar in
Taize in der dortigen Versöhnungskirche.
Ich weiß nicht mehr genau,
was mich damals mehr angesprochen hat, das Thema des Bildes
„Freundschaft mit Christus – Jesus als Weggefährte“ oder die
Abbildung selbst in ihren schönen gelb-braunen Farbtönen.
Bei meinem diesjährigen
Aufenthalt in Ägypten habe ich dieses Bild neu entdeckt und
noch mehr schätzen und lieben gelernt.
Es handelt sich nämlich um
eine uralte, aber sehr gut erhaltene koptische Ikone
(typisch: die großen Köpfe und die riesigen
Heiligenscheine).
Das Original (quadratisch, 57x57 cm) befindet sich in der ägyptischen Abteilung des
französischen Nationalmuseums, dem Louvre in Paris.
Die Beschriftung rechts und
links am oberen Bildrand (in griechischen Buchstaben)
verrät, wer auf dem Bild dargestellt ist:
Links Abt Menas, bezeichnet
als „Vater Menas, Wächter“.
Und rechts Jesus Christus,
bezeichnet als „Soter“, zu Deutsch „Retter“.
Der Überlieferung nach war
Menas zunächst ein ägyptischer Soldat.
Später wurde er Mönch und
dann Abt des Klosters Bawit in Ägypten.
Zahlreiche Legenden sind über
ihn in Umlauf. Sie zeichnen ihn als Menschen, der mit seinem
Christsein radikal ernst gemacht hat und für unzählige
Menschen zum Vorbild und Nothelfer geworden ist.
Bei der Christenverfolgung
unter Kaiser Diokletian soll er im Jahr 296 wegen seines
christlichen Glaubens und seines Bekennermutes verhört,
gefoltert und hingerichtet worden sein.
Als heiliger Märtyrer wird
Menas besonders in der koptischen Kirche sehr verehrt. An
seinem Grab (etwa 40 km südwestlich von Alexandrien) – an
einer als heilig verehrten Quelle – ereigneten sich
zahlreiche Wunder. Tausende Pilger suchten es auf.
Die Stadt, die um das Grab
herum entstanden ist, Abu Mena (Menasstadt), war bis zum 10.
Jahrhundert ein bedeutender Wallfahrtsort, eine Art „frühchristliches Lourdes“. Bis heute ist Menas der
volkstümlichste Heilige in Ägypten.
BILDMEDITATION
Zwei Männer, ein älterer und
ein jüngerer stehen nah beieinander und schauen gemeinsam
nach vorn. Die etwas größere Figur rechts ist Christus,
erkennbar am Kreuznimbus. Er hat seinen rechten
Arm liebevoll um Menas gelegt. Und seine Hand ruht auf
dessen Schulter.
Die Geste geht von Jesus aus.
Eine Geste der Kameradschaft,
der Verbundenheit, der Freundschaft.
Eine Geste auch, die Kraft
spendet, die ermutigt und stärkt.
Christus und Menas schauen
sich nicht an. Sie sind einander nicht zugewandt. Sie sind
auch nicht umschlungen wie ein Liebespaar.
Es ist eher, wie wenn der
große Bruder dem kleinen die Hand auf die Schulter legt, ihm
den Rücken stärkt und ihm dabei Zuversicht übermittelt.
Eine Reihe von Symbolen
deutet die Beziehung der beiden aus:
Da sind zunächst die großen
Heiligenscheine, die die Häupter von beiden
umschließen, wobei der von Christus den des Menas ein klein
wenig überragt und zusätzlich durch das Erlösungszeichen des
Kreuzes gekennzeichnet und herausgehoben ist. Diese
leuchtend gelben Scheiben drücken etwas Unsichtbares aus.
Sie symbolisieren ein inneres Licht. Und obwohl es zwei sind
kennzeichnen sie eine gemeinsame Aura.
Jesus trägt in der linken
Armbeuge ein großes Buch. Es ist ein
kostbares, reich verziertes Evangeliar, Hinweis auf das Wort
Gottes, das Evangelium, die Frohe Botschaft. Das Buch sagt
und zeigt, was Jesus lehrte und tat und wofür er lebte und
starb. Und es lädt ein zur Nachfolge.
„Leben nach dem Evangelium“,
das war es, was Menas als Christ, als Mönch und Abt in
heidnischer Umgebung anstrebte und zu verwirklichen suchte.
Menas hält in der linken Hand
eine kleine, unscheinbare Papyrusrolle.
Es mag die Kloster- oder
Ordensregel sein, welche die Lebensweise der Mönche in der
Nachfolge Christi auslegt und beschreibt.
Menas hält die Weisung fest
umschlossen in seiner Hand. Sie ist im Maßstab und
Richtschnur für sein Leben.
Auch in Bedrängnis, Not und
Verfolgung wird er daran festhalten und treu zu seinem
Glauben stehen, bis in den Tod.
Wie einen Schatz tragen
beide, Christus und Menas, das Wort Gottes, die Weisung auf
ihrem Herzen.
Auffällig und ungewöhnlich
ist, dass die Aufschrift „Vater Menas,
Wächter“ zweimal vorkommt, einmal im oberen lachsroten
Drittel, das den Himmel symbolisiert, und ein zweites Mal –
weniger gut leserlich – links am Rand des grünlichen unteren
Bereich des Bildes, der die Erde darstellt. Vielleicht soll
damit herausgestellt werden, dass Menas sowohl in der Welt
als auch im Himmel zuhause war.
Es fällt auch auf, dass Menas
keine Schuhe trägt. Er geht barfuss.
Ist es ein Zeichen für
Leichtigkeit? Oder für Bedürfnislosigkeit?
Ist er als Armer unterwegs?
Oder deutet es seinen Bodenkontakt an, sein Geerdetsein?
Denn im Unterschied zu
Christus steht er auf der Erde.
Es scheint auch als habe er
den rechten Fuß zum Gehen schon leicht vorgeschoben. In
Freundschaft mit Jesus verbunden, ist er bereit zu gehen,
auszuschreiten, sich senden und sich in Dienst nehmen
zulassen, den Blick auf Gott und den Willen des Vaters
gerichtet.
Jesu Füße sind
nicht sichtbar.
Vielleicht ist er als der
Auferstandene dargestellt, dessen Füße schon nicht mehr auf
der Erde stehen.
Vielleicht liegt es aber auch
einfach daran, dass die Ikone viele hundert Jahre alt ist
und die Farbe an dieser Stelle gelitten hat.
Vielleicht können wir es aber
auch so deuten:
„Jesus hat keine Füße, nur
unsere Füße, um seine Botschaft in die Welt und zu den
Menschen zu bringen.“
Jesu großen Augen
sind weit geöffnet. Es sind die Augen eines Wissenden. Sie
signalisieren Klarheit und Entschiedenheit und lassen die
innere Fülle nach außen strahlen.
Auch die Augen des Menas sind
weit geöffnet, aber sie scheinen mehr fragend in die Ferne
gerichtet zu sein, wie wenn sie etwas suchen würden.
Und doch ist es kein nervöser
Blick. Gleichzeitig scheinen seine Augen nämlich auch nach
innen zu gehen, wie wenn sie in etwas zu ruhen würden.
Gut sichtbar sind bei Menas
die Ohren. Er ist ein Hörender.
Hören ist eine wichtige
Jüngertugend.
„Wer Ohren hat zu hören, der
höre!“
„Selig, die das Wort Gottes
hören und es befolgen.“
Mit seiner rechten Hand
deutet Menas zu Jesus Christus hinüber.
ER ist die Kraftquelle seines
Glaubens, seiner Hoffnung und seiner Liebe.
IHM fühlt er sich in Treue
verbunden. Mit IHM schaut er nach vorn. Mit SEINER Kraft
geht er voll Vertrauen seinen Weg.
Oder ist es gar keine Deute-,
sondern eine Segensgeste?
Hat Menas seine Hand zum
Segen erhoben?
Segnet er als
Klostervorsteher seine Brüder? Segnet er die, die – wie er –
an Christus glauben? Segnet er uns, die Betrachter des
Bildes?
SCHLUSSBEMERKUNGEN
Statt des koptischen Abtes
Menas könnte jeder und jede von uns auf dieser Ikone
abgebildet sein. Jede und jeder trägt sein Bündel an
Lebensweisheit und Lebenserfahrung. Wie Menas sind wir auf
dem Weg, manchmal zuversichtlich, oft aber auch in Ängsten
gefangen und mit Sorgen beladen; manchmal leichtfüßig, oft
aber auch mühsam und beschwerlich.
Was wäre, wenn ich es wagte,
mich an die Stelle des Menas zu denken?
Wie wäre das für mich, wenn
ich seinen Platz einnähme? Und neben mir – auf Augenhöhe –
Jesus Christus, der Auferstandene, der Herr, mein Freund und
Meister? Ich an der Seite Jesu. Jesu an meiner Seite?
Wie wäre es für mich, zu
spüren wie Jesu freundschaftlich seinem Arm um meine
Schultern legt und mir – in all meinen Schwächen, Hoffnungen
und Zweifeln – schützend und stärkend seine Hand auflegt?
Er, der Herr, ist an der
Seite eines jeden von uns, auch wenn wir es nicht spüren. Er
ist da. – Das ist seine Zusage:
„Ich bin bei euch alle Tage.“
Menas kannte das Taizelied noch nicht, aber
er hat verwirklicht und gelebt, was es aussagt „Meine Hoffnung und meine Freude, meine
Stärke, mein Licht, Christus meine Zuversicht, auf dich
vertrau ich und fürcht mich nicht, auf dich vertrau ich und
fürcht mich nicht.“
Wir leben heute in einer
anderen Zeit als Menas. Und Menas lebte in einer anderen
Zeit als die Jünger und Jüngerinnen Jesu. Die Zeiten ändern
sich.
Entscheidend ist, dass Jesus
Christus derselbe bleibt gestern, heute und morgen.
Entscheidend ist, dass er bei uns ist und mit uns geht und
uns jeden Tag die Kraft gibt, die wir brauchen.
Selbst im Sterben verlässt er uns nicht.
„Nur einer gibt Geleite, das ist
der Herre Christ. Er wandert treu zur Seite, wenn alles uns
vergisst.“
Er nimmt uns an der Hand und
führt uns aus dem Tod ins ewige Leben.
(Interessant: die Geste der
auf die Schulter gelegten Hand könnte, so vermuten einige
Betrachter der Ikone, von ägyptischen Anubis Darstellungen
stammen, da Anubis, ein altägyptischer Gott, in seiner
Funktion als Begleiter der Totenriten und als Seelenführer
ins Jenseits seine rechte Hand auf die Schulter der
Verstorbenen legt.)
Ich stell‘ mir vor: Als Menas
auf so grausame Weise starb, weil er seine Freundschaft mit
Christus nicht verraten wollte, da hat Jesus auch seinen Arm
um seine Schulter gelegt und ihn heimgeholt und ihm erneut
einen Platz an seiner Seite gegeben.
Die Ikone des heiligen Menas
mit Christus wurde durch das Mönchskloster von Taize im
Rahmen der ökumenischen Jugendtreffen als „Ikone der
Freundschaft“ bekannt und erhielt auf diese Weise eine
neue, zeitgemäße Interpretation.
Ermutigend klingen von hier
die Worte von Bruder Roger Schutz:
„Lebe das; was du vom Evangelium begriffen
hast, und sei es auch noch so wenig.“ Das aber
lebe, das mach konkret, das versuche umzusetzen und hinein
zu buchstabieren in dein Leben!
Noch etwas: Christus nennt
uns im Evangelium seine Freunde. (Joh 15, 15)
Macht es mich froh und
dankbar, zu wissen, dass Jesu mir seine Freundschaft
anbietet?
Macht es mich als Christ
glücklich und vielleicht sogar ein wenig stolz, sagen zu
können: Ich habe Jesus als Freund?
Freund Jesu sein: das ist
meine Berufung – und mein Lebensglück.
Jesus braucht viele Freunde
und Freundinnen, die sein Wort hören und es befolgen,
Menschen, die seine Botschaft weitersagen und weitertragen –
wie Abt Menas. |