Es gibt viele Bilder
vom guten Hirten. Vor allem in Kinderbibeln finden
wir Darstellungen, die zeigen, mit wieviel Freude
der gute Hirt das verlorene Schaf nach Hause trägt.
Jesus selbst
bezeichnet sich als den guten Hirten, der uns
Menschen nachgeht. Auch dort, wo wir auf dem
falschen Weg sind und in die Irre laufen.
Gibt es für den
Hirten eine Grenze? Sagt er irgendwann:
„Bis hierher geh ich
– und keinen Schritt weiter?“
In
Vézelay, einem Ort in Burgund, findet sich in der
dortigen Kathedrale Sainte Marie-Madeleine (12.
Jahrhundert) ein Säulenkapitell mit einer
Darstellung, die einzigartig und beeindruckend ist.
„Judas und der gute Hirt“
könnte das Bild heißen.
Es besteht aus zwei
Szenen.
Auf
der einen Seite sieht man Judas mit aufgerissenen
Augen und weit
heraushängender Zunge, verzweifelt, hilf- und
wehrlos am Strick an einem Baum hängen. Er hat sich
– ver-strickt in seine Schuld – umgebracht. Er
wusste nicht mehr aus und ein. Er hat seinem Leben
aus lauter Verzweiflung ein Ende gemacht.
Auf der anderen Seite
des Kapitells sieht man, wie jemand den toten Judas
vom Baum genommen, von seinen Ver-strickungen
befreit und auf seine Schultern gelegt hat. Nun
trägt er ihn – wie ein Hirt das verletzte oder
verlorene Schaf – und bringt ihn nach Hause.
Kein Zweifel, der
Hirt ist der auferstandene Christus, der der den
toten Judas aufnimmt, ihn heimholt und annimmt.
Was für eine
Botschaft erzählt dieses über 800 Jahre alte
Steinrelief?
Welch
revolutionäre Sicht des unbekannten Steinmetz von
Vézelay, der in großer künstlerischer und gläubiger
Freiheit die tragische Judasgeschichte radikal
weiter- und zu Ende gedacht hat?
Das Judaskapitell von
Vézelay ist zweifellos ein starkes, ein
faszinierendes Bild.
Eindrucksvoller lässt
sich die grenzenlose Barmherzigkeit Gottes nicht
darstellen.
Mit seiner Botschaft
– in Stein gemeißelt – trifft es mitten hinein ins
Zentrum der biblischen, der christlichen
Verkündigung.
Christus gibt Judas
nicht auf. Er lässt ihn nicht hängen.
Er löst ihn aus
seinen Ver-strickungen. Er legt ihn sich selber auf
und trägt ihn. Es ist fast wie eine Umarmung, ein
Umfangen.
Was für eine Liebe!
Welch großes Erbarmen und Verzeihen!
Doch
ist Judas nicht der, der den unschuldigen Jesus
verraten und verkauft hat? Hat er ihn nicht für
dreißig Silberlinge ans Messer geliefert hat? Hat er
nicht den Sohn Gottes auf dem Gewissen?
Warum hat er das
getan? Geldgier, Neid, Enttäuschung…?
Durch alle
Jahrhunderte hat Judas die Gemüter bewegt. Bis heute
wird viel über seine Beweggründe diskutiert.
Warum auch immer er
das getan hat, fest steht, dass er Jesus mit einem
Kuss verraten und an seine Feinde ausgeliefert hat.
Ist Judas nicht das
Paradebeispiel von Bösartigkeit?
Ist er nicht der
Inbegriff von Versagen und Schuld?
Eine unvorstellbar
große Schuld, von der viele oft gemeint haben, sie
könne unmöglich vergeben werden.
Für die Menschen des
Mittelalters war klar: Auf Judas wartet die ewige
Verdammnis.
Und dieser Judas wird
nun von Jesus vom Strick genommen und – wie das
verlorene Schaf – nach Hause getragen?
Kann das sein? Ist
das nicht höchst anstößig und provozierend?
Gnade für Judas? Kann
es das geben?
Hat nicht der Teufel
Judas in seinen Besitz genommen?
Geht die Gnade und
Liebe Gottes wirklich so weit, dass sie selbst Judas
erreicht?
Schenkt Gott in
seiner unermesslichen Barmherzigkeit sogar ihm
eine Möglichkeit zu Rettung, Heil und Leben?
Die Darstellung in
der Kathedrale von Vézelay von Judas und dem guten
Hirten ist Ausdruck der tiefen gläubigen
Überzeugung, dass die Liebe Gottes wirklich
unvorstellbar groß ist, größer als jedes Versagen,
größer als alle Schuld, stärker als alle Sünden.
Im ersten
Johannesbrief steht das Wort: „Klagt uns unser
Herz auch an, Gott ist größer und er weiß alles.“
(1 Joh 3, 20)
Gott ist größer.
Seine Liebe ist größer. Gottes Barmherzigkeit ist
größer. Gottes Liebe und Barmherzigkeit ist
unermesslich.
Wo wir sagen:
verloren, sagt er: gefunden.
Wo wir sagen:
verdammt, sagt er: gerettet.
Wo wir nein sagen,
sagt er doch ja.
Das Kapitell von
Vézelay zeigt uns im guten Hirten, der Judas auf
seinen Schultern trägt, den unendlich barmherzigen
Gott.
Heil
und Erlösung werden für Judas nicht ausgeschlossen.
Judas ist in all
seiner Tragik kein hoffnungsloser Fall.
Das hat etwas sehr
Tröstliches und Hoffnungsvolles.
Kein Leben ist
endgültig verpfuscht. Kein Mensch ist hoffnungslos
verloren.
Das
heißt allerdings nicht: „Es
ist egal, wie du lebst und was du machst, am Ende
wirst du doch gerettet. Wir kommen alle, alle in den
Himmel.“
Judas
und der gute Hirt sagen vielmehr: „Meint nicht, dass Gottes Liebe klein
und begrenzt ist. Schließt nicht aus, dass mancher
gerettet wird, von dem ihr es nicht erwartet. Gott
ist groß im Verzeihen.“
Gott geht uns mit
Sicherheit weiter nach, als wir uns vorstellen
können. Und wenn es auch nur ein noch so kleines
Zeichen von Reue und Umkehr gibt, wird Gott es sehen
und entsprechend handeln.
Wie verloren das
Schaf auch sein mag, der Hirt geht ausdauernd und
geduldig, bis er es findet.
Gott geht ganz, ganz
weit in seiner Liebe.
Der gute Hirt von
Vézelay gibt allen Hoffnung, die sich in unheilvolle
Geschichten verstrickt haben wie Judas.
Er gibt denen
Hoffnung, die sich scheinbar rettungslos verirrt
haben und als hoffnungslos verloren gelten.
Welches Glück, dass
es die suchende Sorge des Hirten gibt!
Der gute Hirt ist
Jesus Christus, der von sich selbst sagt, dass er
gekommen ist, um zu suchen, was verloren war und zu
heilen, was verwundet ist.
Der gute Hirt, Jesus
Christus, wird uns finden, ganz bestimmt!
Ihm ist nichts zu
viel, kein Weg zu weit. Er gibt sogar sein Leben hin
für die Schafe. So ist Gott!
In Jesus Christus hat
er alle Schuld der Welt auf sich genommen.
„Für
euch und für alle“,
sagt Jesus zu den Seinen im Abendmahlssaal.
Und beim letzten
Abendmahl war auch Judas dabei!
Er wird jeder und
jedem auch von uns ein gnädiger Richter sein, wenn
sich unser irdisches Leben mit all seinen
Verstrickungen vollendet hat.
Gottes Liebe aber
ruft unsere Liebe. Jesu Herz ruft unser Herz.
Der gute Hirt sucht,
ruft und braucht auch heute gute Hirten und
Hirtinnen, die nicht verdammen, sondern retten; die
suchen und heimholen, was als verloren erscheint;
die nicht abschieben, sondern aufnehmen; nicht
abschreiben, sondern annehmen; nicht verurteilen,
sondern aufrichten; nicht ausschließen, sondern
befreien und erlösen.
Und wenn wir selbst
manchmal vielleicht mit uns hadern, weil wir mit
einer Schuld nicht fertigwerden oder weil es uns
immer wieder so schwer fällt, unseren Idealen treu
zu bleiben, wenn wir auch in uns, die wir doch
glauben möchten, noch so viel Verweigerung, Wut,
Hass, Misstrauen wahrnehmen, dann gilt auch uns die
Stimme des guten Hirten, die uns zuruft:
Wenn das Herz euch
auch verurteilt, Gott ist größer als euer Herz und
er weiß alles.
Und vielleicht
beginnt das Vertrauen in uns zu wachsen, dass wir in
allem, was wir zu tragen haben, selbst getragen
sind. Und wir dürfen unser Herz in seiner Gegenwart
beruhigen und uns bei ihm geborgen fühlen.
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