I. HINFÜHRUNG
Um die Jahrtausendwende und
die darauffolgenden Jahrzehnte wurden in Deutschland viele
Handschriften in Auftrage gegeben, die für den feierlichen
Gottesdienst bestimmt waren.
Besonders kostbar wurden in
der Regel die liturgischen Bücher ausgestattet, die
sogenannten Evangeliare.
Unser Bild stammt aus einem
solchen Evangelienbuch, dem „Codex Aureus“, zu
deutsch „Goldenes Evangelienbuch“.
Es ist um 1040 in Echternach
entstanden und befindet sich heute im Germanischen
Nationalmuseum in Nürnberg.
Mönche des
Benediktinerklosters, das im heutigen Luxemburg liegt,
malten eine Folge von Christusbildern.
In ihnen stellt der Herr die
ursprüngliche Schöpfung Gottes wieder her. Er gibt ihr die
gottgewollte Gestalt wieder zurück.
Das kommt besonders in den
Heilungsbildern sehr nachdrücklich zum Ausdruck.
Unser Bild zeigt die Heilung
eines Aussätzigen.
II.
BILDBESCHREIBUNG
Eine Gruppe von
herabsteigenden Gestalten gliedert – einer Treppe ähnlich –
das Bild diagonal in zwei Hälften.
Es
sind Menschen, die mit Jesus in Berührung gekommen sind:
Kranke und Arme, unter ihnen
ein Gehbehinderter mit einer Krücke, die er aber anscheinend
nicht mehr braucht;
dann zwei Jünger (Apostel)
und schließlich Jesus selbst in machtvoller Größe,
erkenntlich am Kreuznimbus und der Schriftrolle.
Die herabsteigende Bewegung
wird unterstrichen von wellenartig herabflutenden
Erdfurchen.
Unten rechtes gelangt dieser
Zug an ein Ziel. Die Bewegung wird aufgefangen von der
dunkelgefleckten Gestalt eines aussätzigen Mannes. Bittend
und aufnehmend streckt er seine Hände der ausgestreckten
Hand Jesu entgegen.
Die Gestalt Jesu und die des
Aussätzigen nehmen etwas mehr als die rechte Hälfte des
Bildes ein.
Klar voneinander geschieden
sind auch die farbigen Querschichten des Hintergrunds. Ein
tiefes Blau erfüllt das ganze Mittelfeld.
Der Aussätzige steht zur
Hälfte in grüner Farbe. Mit Kopf und Händen ragt er ins
Blau.
Nach oben folgen ein schmaler
Streifen in Gold und ein breiterer, rosarot gefärbter.
III.
BIBELTEXT: Mt. 8, 1-4
„Als Jesus von Berg
herabstieg, folgte ihm eine große Schar.
Und siehe: ein Aussätziger
trat hinzu, fiel vor ihm nieder u. sagte: Herr, wenn du
willst, kannst du mich rein machen. Da streckte er seine
Hand aus, berührte ihn und sagte: Ich will, sei rein!
Sogleich wurde sein Aussatz
getilgt. Und Jesus sagte zu ihm: Siehe zu, sag es keinem,
sondern gehe hin, zeige dich dem Priester und opfere die
Gabe, die Mose vorgeschrieben hat, zum Zeugnis für sie.“
IV.
BILDMEDITATION
Jesu Weg führt in die Tiefe.
Am Tiefpunkt, buchstäblich
unten, ganz unten, am untersten Rand finden wir den
Aussätzigen, der von seiner Krankheit auch körperlich
gezeichnet ist. Sein ganzer Körper ist voll von den Flecken
und Wunden des Aussatzes.
Das Bild zeigt eindrucksvoll
die Lage des Aussätzigen.
Es spiegelt seine
Lebenswirklichkeit: an den Rand gedrängt, ausgesetzt von der
Gesellschaft, abgeschrieben, abgesondert, ausgestoßen von
aller menschlichen Gemeinschaft, exkommuniziert. Auch die
Teilnehme am Gottesdienst ist ihm strengstens untersagt.
Ein Ekel ist er für die
Gesunden, ein Greul, denn jede Begegnung mit ihm kann sich
ansteckend auswirken und seine Unreinheit übertragen.
Nach jüdischem Gesetz muss er
wegen der Seuchengefahr in einem abgegrenzten Bereich
dahinleben, was oft wohl mehr ein Dahinvegetieren war.
Allen, die sich ihm nähern
muss er das „Unrein, unrein“ zurufen. –
Die Situation des Aussätzigen
kann man zusammenfassen in dem Ausspruch: „Das ist doch
kein Leben mehr!“
In der Tat:
Ein Aussätziger ist tot schon
bevor er stirbt, lebendig bereits tot.
Am Tiefpunkt beginnt die
Heilung.
Es gibt in dem Aussätzigen
einen Funken Leben. Da ist noch ein kleiner Rest Hoffnung
und Energie. Er hört von Jesus und macht sich auf, macht
sich auf den Weg. Und als er Jesus begegnet, hebt er die
Hände und streckt sie ihm entgegen, ihm, von dem er hofft,
dass er ihn heil machen, dass er ihm neues Leben schenken
kann.
Seine Hände sprechen. Sie
sind fast übergroß gemalt.
Offene, leere Hände: Geste
der Hoffnung, des Vertrauens, der Zuflucht.
Die ganze Erwartung und
Sehnsucht des von Unheil Getroffenen spiegelt sich auch in
seinem Gesicht und seinen großen Augen.
Und es ist als ginge er in
die Knie: Zeichen der Demut, der Ehrfurcht und der Anbetung.
Jesus kommt vom Berg herab.
Das Heil kommt von oben.
Er kommt aus der lebendigen
Beziehung mit dem Vater, aus dem Raum der Stille, des
Gebetes.
Die intime Nähe mit dem Vater
im Gebet wird zur Quelle des Wirkens Jesu.
In der Einheit und Beziehung
mit dem Vater stiftete er Beziehung unter den Menschen.
Er geht selbst an den
Tiefpunkt menschlicher Not (vgl. Phil. 2,6ff.)
Er leidet mit uns Menschen:
„Er hat unsere Leiden auf sich genommen und unsere
Krankheiten ertragen.“ (Jes 53,4; Mt 8,17)
Die inständige Bitte des
Aussätzigen aus der Tiefe bekommt ihre heilende, rettende
Antwort aus der Höhe des lebendigen Gottes, der in Jesus
selbst in die Tiefe hinabsteigt.
Auf unserem Bild ist es
deutlich zu sehen:
Jesus kommt aus der Zone des
Lebens und geht auf die Todeszone zu.
Er durchbricht die geltenden
Tabus. Er überschreitet die aufgerichteten Schranken und
Grenzen.
Jesus geht auf den Aussätzigen zu.
Er weicht nicht aus.
Er wendet sich dem zu, dem
sich sonst nie jemand zuwendet, von dem sich alle abwenden,
zu dem jeder auf Distanz geht.
Ganz nah geht er an ihn
heran, dem man sich eigentlich nicht nähern darf, den man
meiden muss, Abstand halten. So nah ist ihm wohl schon lange
niemand mehr gekommen.
Jesus berührt den Kranken
sogar.
Er kennt keine
Berührungsängste. Er greift gleichsam in das Elend ein,
nimmt Beziehung auf zu dem Beziehungslosen.
Er streckt seinen rechten Arm
aus und legt seine Hand auf die Stirn des Mannes: Geste des
Segens, des Erbarmens, der Annahme, der heilenden Nähe und
Kraft.
Indem Jesus sich dem
Aussätzigen zuwendet, durchbricht er dessen Isolation und
führt den Elenden aus der Todeszone in den Bereich des
Lebens. Er gibt ihm durch die Beziehung zu ihm seine
ursprüngliche von Gott gewollte Würde und Reinheit wieder.
Das ist Gottes Sendung an
Jesus. Er macht heil an Leib und Seele. Er ruft aus dem Tod
zum Leben. Die Heilung eines Aussätzigen kam einer
Totenerweckung gleich.
Direkt hinter Jesus sehen wir
zwei Männer.
An ihrer Kleidung sind sie
als Apostel zu erkennen. Sie gehen hinter Jesus her. Sie
folgen ihm, gehen mit ihm seinen Weg. Sie haben die gleiche
Blickrichtung wie er.
Hier wird deutlich, was
Christsein heißt: hinter Jesus hergehen, ihm nachfolgen, wie
er die Armen im Blick haben.
Der Jünger, der als erster
Jesus folgt dürfte dem Aussehen nach Petrus sein.
Es ist schön dargestellt, wie
er versucht, Jesus im wahrsten Sinne des Wortes
„gleichförmig“ zu werden.
Es sieht aus, als wäre er
staunend am Abschauen und Nachmachen, was er bei Jesus
sieht.
Er schaut ihm sozusagen auf
die Finger. Er nimmt sich an ihm ein Beispiel, ahmt seine
Gestik und Haltung nach. Er übt sich ein in Jesu Tun.
Es ist als wolle er lernen,
mit den Menschen so umzugehen wie Jesus es tut, die Menschen
so zu behandeln, wie Jesus sie behandelt. Er nimmt Maß an
Jesus. Wie er, so ich.
Hinter den beiden Aposteln
sind weitere Menschen zu sehen.
Vier von vielen, die Jesus
ebenfalls auf seinem Weg folgen.
Ein wenig bedauerlich ist,
dass sich keine Frau darunter befindet. Denn in Wirklichkeit
haben sich auch Frauen Jesus angeschlossen, sind ihm
nachgefolgt und mit ihm hinauf nach Jerusalem gezogen.
Der Vorderste in dieser
Gruppe trägt einen Krückstock. Aber er hält ihn in der Luft.
Er benutzt ihn nicht als Gehhilfe. Mehr als einmal sind
Menschen, die Jesus geheilt hat, ihm gefolgt auf seinem Weg.
Der Mann hinter ihm hält die
Hand ähnlich wie Petrus. Er scheint sich ebenfalls in die
Gebärde und Gesinnung Jesu einzuüben.
Es könnte auch sein, dass der
mittelalterliche Künstler in diesen vier Menschen
Zeitgenossen gemalt hat. Sie blicken in die Ferne und halten
nach Menschen Ausschau, die in Zukunft Jesu heilendes Tun
weiterführen.
Dann hätten sie uns heute im
Blick. Wir wären gemeint und – in der Nachfolge Jesu stehend
– wären wir aufgerufen, uns in Jesu heilendes Geschehen
einzufügen.
Dann käme es darauf an, dass
wir – wie ER – herabsteigen in die Abgründe einer kranken
Welt, dass wir uns nicht heraushalten, sondern uns dem
Leidenden aussetzen, Gemeinschaft stiften, Ansehen geben den
Unansehnlichen, das geknickte Rohr nicht zerbrechen und den
glimmenden Docht nicht auslöschen.
Denken wie ER! Handeln wie
ER! Leben wie ER! Lieben wie ER!
So würde Kirche selbst zum
„Heiland“ bzw. – auseinander geschrieben – zum
„Heil-Land“, zu einem Ort, wo Heilung und Heil
geschieht.
Gleichsam als Zusammenfassung
des Geschehens schauen wir den Weg an, der sich in viele
Ströme und Quellen aufteilt.
Alle Fülle des Lebens vom
Berg mündet zum Kranken. Alle stehen auf diesem Strom.
Gottes ungeteilte Liebe
strömt zu den Menschen in die Tiefe.
Jesus Christus nimmt diesen
Weg auf sich. Er ist der Retter und Heiland. Er weist den
Weg allen, die ihm nachfolgen.
V. Gebet:
Denk du in mir, o Jesus, dann
denk ich licht und klar.
Sprich du in mir, o Jesus,
dann sprech ich gut und wahr.
Wirk du in mir, o Jesus,
gerecht ist dann mein Tun,
geheiligt meine Arbeit,
geheiligt auch mein Ruhn.
Erfüll mein ganzes Wesen,
durchdring mein ganzes Sein,
dass man aus mir kann lesen
die große Liebe dein! |