Ein Mann ist auf dem Heimweg.
Er kommt von der Feldarbeit. Man kann sich vorstellen, dass
er müde ist und Hunger hat: Simon von Cyrene. – Cyrene ist
das heutige Tripolis in Nordafrika. Also ein Ausländer? Ein
Mann mit Migrationshintergrund? Ein Wirtschaftsflüchtling?
Seinen Weg kreuzen Menschen,
die aus der Stadt zur Gerichtsstätte hinaufziehen. Darunter
einer, der einen schweren Kreuzesbalken schleppt und von
einem Trupp Soldaten bewacht wird.
Eigentlich geht Simon die
Sache nichts an. Eigentlich will er auch nichts damit zu tun
haben. Eigentlich will er so schnell wie möglich nach Hause.
– Aber die Soldaten
rufen ihn und zwingen ihn, Jesus das Kreuz tragen zu helfen.
Er muss, ob er will oder nicht. Widerwillig und verärgert
packt er zu. Es bleibt ihm nichts anderes übrig.
Nun tragen sie gemeinsam das
schwere Holz. Auch wenn Simon nicht freiwillig hilft, so
macht er durch sein Mittragen die Last für Jesus doch
leichter und erträglicher.
Sieger Köder hat die Szene
nicht so ins Bild gebracht, wie sie sonst meistens
dargestellt ist: Simon vor oder hinter Jesus.
Sieger Köder gibt dem Bild
eine andere Perspektive: Simon trägt das Kreuz Seite an
Seite mit Jesus. Beide befinden sich auf Augenhöhe. Ihre
Köpfe berühren sich. Die Gesichter ähneln sich. Die vier
Hände, die zu sehen sind, halten und umfassen.
Simon und Jesus haben den
Kreuzbalken auf ihre Schultern genommen. Mit je einem Arm
halten und umfassen sie oben den Stamm, die gemeinsame Last,
die auf ihnen liegt. Mit dem anderen Arm umfasst der eine
von hinten und seitlich den anderen. Es ist wie eine
Umarmung von hinten, die beide eng miteinander verbindet. Im
gemeinsamen Tragen sind sie fast eins miteinander. Sie
wirken wie zwei Brüder, einander vertraut. Augen Nase, Mund,
Bart – einer wie der andere – zum Verwechseln ähnlich. Nur
Simon im blauen Gewand hat eine dunklere Hautfarbe. Jesus
mit dem roten Gewand trägt Spuren von Folter im Gesicht.
Die beiden schauen den
Betrachter an. Die Augenpaare sind auf uns, auf mich
gerichtet. Es ist als wollten sie fragen: Und Du?
Wie sieht es aus mit deiner
Solidarität? Wo trägst du die Last anderer mit? Vermagst du
dich einzufühlen, mitzufühlen, Anteil zu nehmen,
mitzuleiden? Erkennst du im Hilfsbedürftigen, im
Notleidenden, im Geschundenen deinen Bruder, deine
Schwester?
Jesus und Simon waren
einander fremd und sind sich ganz nahe gekommen. Aus Fremden
wurden „Brüder“. Das Kreuz, das sie miteinander tragen,
schmiedet sie zusammen und macht sie unzertrennlich: den
unschuldig zum Tod verurteilten Juden Jesus aus Nazareth und
den zur Hilfe gezwungenen Gastarbeiter aus Nordafrika. Unter
dem Kreuz werden sie wie zu Freunden.
Beide tragen und werden
getragen. Sie halten gemeinsam das Kreuz und geben einander
Halt. Ist es oft nicht so: Wer andere stützt und
unterstützt, spürt sich selbst gestützt, spürt Hilfe und
Kraft.
Von Charles Dickens stammt das Wort: „Niemand ist nutzlos in dieser Welt, der
einem anderen dir Bürde leichter macht.“
Und ein Sprichwort lautet: „Geteiltes Leid ist halbes Leid.“ |