EINFÜHRUNG
Es handelt
sich um eine sogenannte Miniatur, eine Seite aus dem
Perikopenbuch Heinrichs II., einem Buch mit Abschnitten aus
den Evangelien, die im Laufe des Kirchenjahres in der
heiligen
Messe vorgetragen werden.
Das Bild ist
im original 28 x 25 cm groß. Es ist mit Deckfarben auf
Pergament gemalt. Nachdem das Buch jahrhundertelang in
Bamberg aufbewahrt wurde, kam es im Zug der Säkularisation
1805 in die heutige Staatsbibliothek in München.
Das Buch war
aufgrund seiner Materialien eine Kostbarkeit. Für die 206
Pergamentblätter benötigte man nicht weniger als 85(!)
Kälberhäute. Die 28 ganzseitigen Miniaturen bestehen aus den
allerkostbarsten Materialien wie reinem Gold und
Purpurfarbe.
Die Maler
waren Meister ihres Faches und haben für den zukünftigen
Kaiser Heinrich II. und das von ihm gegründete Bistum
Bamberg (1007) bzw. die Weihe des Bamberger Domes (1012) ein
Spitzenwerk der mittelalterlichen Buchkunst geschaffen.
BILDBETRACHTUNG
Das Bild zeigt
die Verkündigung der Geburt Christi an die Hirten. Ein Engel
bringt ihnen in gebeugter Haltung und mit segnender Gebärde
die frohe Botschaft. Die wehenden Mantelfahnen und seine
weit ausgebreiteten Flügel
drücken bildhaft die Kraft und
Dynamik seiner Verkündigung aus.
Der Bote
Gottes – mit goldenem Nimbus um seinem Haupt – scheint
gerade aus der Höhe zur Erde niedergeschwebt zu sein und hat
mit seinen bloßen Füßen die höchste Erhebung eines
stilisierten Berglandes erreicht, welches von Schollen
gebildet wird, die sich dicht überlagern.
Mehr als die
Hälfte des Bildraumes wird von dem riesigen Engel
eingenommen. Seine Flügel ragen in die himmlische Sphäre
hinein, einen rosavioletten Streifen am oberen Bildrand, der
durch eine dünne rote Linie gegen das Gold des Hintergrundes
abgesetzt ist. Die Zipfel des gelben Engelgewandes bauschen
sich im Wind. Mit der linken Hand hält der Engel den Mantel
zusammen, mit der rechten Hand deutet er energisch auf einen
auffällig groß dargestellten Hirten am unteren Bildrand.
Dieser Hirte
ist von der Schritthaltung her nach rechts unterwegs.
Eigentlich hat er den Engel im Rücken, wendet sich aber um,
dreht den Kopf zurück und schaut erstaunt, vielleicht auch
erschrocken zum Engel hinauf. Die rechte Hand hat er
grüßend, vielleicht auch wie zum Schutz gegen das – von der
himmlischen Erscheinung ausgehende – blendende Licht,
erhoben und erwidert auf diese Weise die Geste des Engels.
Mit der linken Hand – vom Mantel verdeckt – stützt er sich
auf seinen Hirtenstab.
Dieser Hirte
ist auffällig vornehm gekleidet. Über einem ebenso hellen
Untergewand wie der Engel es trägt, hängt ein roter Mantel,
der an
der Schulter mit einer Spange geschlossen ist.
Außerdem hat er violette, vorn geknöpfte Beinkleider an und
halbhohe elegante Lederstiefel.
Im Gegensatz
zu diesem Hirten sitzen zwei viel kleinere Hirten in
ärmlicher Kleidung und barfuß auf den Erdschollen am linken
Bildrand sozusagen im Schatten des Engels, einer in einem
blauen Gewand, der andere in einem grauen. Gebannt und mit
großen Augen schauen sie zum Engel hinauf. Der vordere hat
in der linken Hand einen Hirtenstab, mit der anderen deutet
er – den Arm erhebend – zum Engel.
Am unteren
Bildrand weiden – schematisch auf die Randleiste gestellt
und ungerührt von dem, was geschieht – drei Schafe links vom
großen Hirten und eines rechts im Bildeck. Ein fünftes etwas
größeres Schaf befindet sich hinter einer Erdscholle in der
Bildhälfte. Im Gegensatz zu den anderen grast es nicht,
sondern dreht den Kopf zurück in Richtung der beiden kleinen
Hirten.
Der
Größenunterschied zwischen dem Engel und den Hirten,
zwischen den Hirten untereinander und zwischen dem großen
Hirten und den Tieren lässt sich durch die Verwendung der
mittelalterlichen Bedeutungsperspektive erklären.
Entsprechend ihrer Bedeutung sind die Figuren der Heiligen
oder Engel groß, die der Menschen jedoch sehr viel kleiner
gemalt und die Tiere nochmals kleiner. Die unterschiedliche
Größendarstellung entspricht der hierarchischen Ordnung des
Mittelalters, dem gestuften Aufbau allen Seins.
Gott: der
Gebende – der Mensch: Empfangender
Gott ist der
Gebende – hier dargestellt durch den Engel, der Gott
vertritt und an seiner Stelle handelt – der Mensch
Empfangender. Diese Grunderfahrung wird deutlich durch die
Gebärdensprache. Der Hirt ist nach der Schrift der gläubige
Mensch, an den Gott seine Botschaft richtet. Deutlich wird
dies auch an der Hand des Engels, die mit einer
ausdrucksstarken und deutlichen Geste zu den Hirten
ausgestreckt ist. Die Hirten ihrerseits blicken nach oben
und zeigen mit ihren Händen mit ebenso überlangen Fingern in
Richtung des Engels, um wohl zu signalisieren, dass die
Botschaft angekommen ist und dass man ihr folgen will.
Gottes
Herrlichkeit
Es fällt auf,
dass nahezu die gesamte Miniatur von einem Goldgrund
hinterfangen ist. Lediglich der rosaviolette Himmel und der
braungraue Schollenberg sind davon ausgenommen. Nicht ohne
Grund. Die Malermönche auf der Reichenau haben sich auch
dabei etwas gedacht.
Der Bibeltext
überliefert uns nicht nur den Inhalt der Botschaft des
Engels an die Hirten: „Fürchtet euch nicht, denn ich
verkünde euch eine große Freude … Heute ist euch in der
Stadt Davids der Retter geboren, der Messias, der Herr“
(Lk 2, 10f), sondern er betont auch: „… und der Glanz des
Herrn umstrahlte sie“. – Dieser Glanz des Herrn wird in
unserer Miniatur verdeutlicht durch den Glanz des Goldes,
der die gesamte Szene hinterfängt.
Gottes
Herrlichkeit ist auf Erden erschienen in der Geburt Jesu
Christi im Stall von Betlehem. Er ist das Licht der Welt.
Davon kündet der Engel und verdeutlicht seine Botschaft in
seiner ganzen Gestalt. Mit Macht und Dynamik bricht er in
das Alltagsleben der Hirten ein und weist sie hin, auf das,
was sich in Betlehem ereignet hat. Doch der die Botschaft
kündende Engel wird selbst zur Botschaft, denn an seiner
Gestalt lässt sich ablesen, dass etwas Neues, Machtvolles,
Unerhörtes beginnt. Gott kommt den Menschen nahe, wird
Mensch unter Menschen, verbindet Himmel und Erde. „Und
der Glanz des Herrn umstrahlte sie.“ |