Der Stern hatte die Magier
gemeinsam geführt. In großer Freude hatten sie das
Messiaskönigskind gefunden. Gemeinsam beteten sie an und
boten ihre Gaben dar.
Vordergründig könnte man
meinen, der Weg sei hier zu Ende und das Ziel erreicht in
der Begegnung mit IHM, im Anschauen, Niederfallen und
Huldigen.
Doch dies ist nicht der
Schluss der Geschichte und nicht das Ende der
abenteuerlichen Reise. Da war ja noch der Wunsch des
Herodes, zu ihm zurückzukommen und ihm Bericht zu erstatten.
Der Wunsch dieses mächtigen Herrschers war den Magiern
gewiss Befehl. Doch zu dieser Berichterstattung bei Herodes
kommt es nicht. Etwas kommt dazwischen. Gott selbst greift
ein im Traum, im Schlaf. Durch einen Boten wird ihnen
gesagt, dass sie nicht zu Herodes zurückkehren sollen. So
entweichen sie auf einem anderen Weg heim in ihr Land.
Die Szene ist dargestellt auf dem Kapitell
einer Säule in der romanischen Kathedrale von Autun.
Es
handelt sich um ein Steinrelief des Meisters Gislebertus aus
den Jahren 1120/1130.
Drei Männer liegen ruhend –
nicht besonders bequem, sondern sehr eng – nebeneinander.
Auch im Schlaf tragen sie
noch die Kronen, Zeichen ihrer königlichen Würde.
Sie liegen zusammen in einem
Bett.
Zugedeckt sind sie nur mit
einer Decke, die in einem großen Bogen halbkreisförmig über
sie gebreitet ist.
Die Decke weist viele, ruhig
fließende Falten auf – wie die Linien einer Baumscheibe.
Gemeinsame Lebenslinien?
Rhythmen gleichen Schicksals?
Die Decke verrät erlesenen
Geschmack und Kostbarkeit.
Sie ist mit Perlen und
Edelsteinstickerei eingefasst und gibt den Dreien
Geborgenheit und Wärme.
Obgleich die Drei unter einer
Decke stecken, sind sie sehr verschieden.
Bei genauerem Hinsehen
erkennt man, dass jede Krone ein anderes Muster hat.
Der obere der Drei hat einen
Schnauzbart, der mittlere ist glatt rasiert, der untere
trägt einen Vollbart.
Auch scheinen sie
verschiedenen Lebensphasen anzugehören:
Der mittlere dem Jugendalter,
der obere der Lebensmitte und der untere dürfte wohl der
Betagteste von ihnen sein.
Zwei von ihnen liegen auf dem
Rücken, der dritte - oben – auf der Seite.
Die zwei, die auf dem Rücken
liegen, scheinen fest und tief zu schlafen.
Sie sehen zufrieden, sorglos
und entspannt aus. Große Ruhe beherrscht ihr Gesicht.
Der obere, der mehr auf der
Seite liegt, hat sich nicht ganz in die Decke eingekuschelt.
Sein rechter Arm liegt
entblößt auf der Decke.
Er scheint wach zu sein oder
im Halbschlaf.
Als einziger hat er die Augen
geöffnet.
Aber er sieht weder den
funkelnden Stern am Himmel noch die jugendliche Gestalt
hinter dem Bett, die mit bewegtem Schwung sich von rückwärts
dem Lager der Drei naht.
Flügel, Nimbus und Stirnband
weisen ihn als Engel aus, als Boten Gottes.
Sein Blick lässt ahnen, dass
es um eine wichtige Sache geht.
Der linke Arm des Engels ist
ausgestreckt.
Eindringlich weist er mit dem
Zeigefinger auf den Stern, der wie eine Blume aussieht und
deutlich über den Köpfen der drei Ruhenden steht.
Die Hand des oberen Königs,
die auf der Decke liegt, weist in die andere Richtung.
Meint er zu wissen, wie es
weiter zu gehen hat, wo der Weg hingeht?
Denkt er, so muss es laufen,
so muss es sein?
Sagt ihm der Engel: Halt!
Nicht so! Anders! Denk um!
Der Weg geht nicht nach
Jerusalem und nicht zu Herodes zurück.
Sagt er ihnen damit nicht
gewissermaßen:
Richtet euch nicht länger
nach den Königen und Theologen der Außenwelt, sondern hört
nach innen!
Lernt auf die Botschaft zu
hören, die aus der Tiefe eurer Seele aufsteigt!
Hört und achtet auf die
Sprache Gottes im Traum!
Lernt seinen Zuspruch zu
vernehmen!
Trotz der Dringlichkeit
seiner Botschaft rüttelt der Engel die Drei nicht gewaltsam
wach.
Vielmehr tippt er mit dem
Zeigefinger seiner Rechten ganz zart die Hand dessen an, der
– günstigerweise – seinen entblößten Arm auf der Decke
liegen hat.
So rücksichtsvoll rührt er
ihn an, dass er nicht aufschreckt, doch so nachdrücklich
auch, dass er die Augen öffnet.
Will der Engel ihn bewegen,
sich umzudrehen und den Arm zu wenden, sich ihm zuzuwenden
und hin zum Stern?
Will er ihm sagen: Bleib
nicht liegen! Weck die andern! Steht auf!
Geht weiter, aber nehmt einen
anderen Weg heim in euer Land! Folgt dem Stern!
Ein Glück, dass dieser König
nicht ganz mit den anderen unter einer Decke steckt!
Wie gut, dass er ein Stück
Geborgenheit entbehrt.
Der Mangel wird ihm zum
Vorteil und durch ihn letztlich allen zum Gewinn.
Wo er offen ist, kann der
Engel ihn sanft berühren, ihm sozusagen einen Tipp geben.
Und es scheint, er ist
empfindsam dafür. Er spürt den zarten Fingerzeig. Er ist
ansprechbar für behutsame Impulse.
Wenn er sich dreht, gewahrt
er den Engel und sieht den Stern, der ganz nah bei ihm ist,
direkt auf Augenhöhe.
Wie gut, dass sich sein Blick
öffnet, dass er sich öffnet für den Boten und seine
Botschaft, für die leisen Impulse, Weisungen, Zeichen und
Einsprechungen Gottes.
Nun kann er selber zum Boten,
zum Engel werden für die anderen, wenn er sie weckt und
ihnen erzählt vom Engel und vom Stern.
So können sie sich neu
orientieren, neu ausrichten, die Richtung ändern, eine neue
Richtung einschlagen, auf anderem Weg heimkehren in ihr
Land.
WAS SAGT UNS DIESES BILD?
WELCHE AUFFASSUNG VOM
MENSCHEN SPRICHT AUS DIESEM KUNSTWERK?
Wenn die Könige Vertreter der
ganzen Menschheit sind und wenn die dargestellte Szene,
dieser „Traum der Magier“, keine zufällige ist,
sondern symbolisch zu verstehen ist und für den ganzen
menschlichen Lebensweg steht, dann ist der Mensch zunächst
offenes Auge und offenes Ohr, ja fühlende Hand; dann ist er
zuerst der Vernehmende, der von außen angesprochen wird, von
der Natur, vom Mitmenschen, von dem, was ihm widerfährt, was
er erlebt.
Oder auch von Innen
angesprochen, von seinem Innern bis hinein in die Träume,
die Signale aus der Tiefe sind, Botschaften der Nacht, die
aus der Seele aufsteigen.
Jedenfalls ist der Mensch
zuerst der Vernehmende, nicht der von sich aus eigenmächtig
Handelnde.
Zunächst ist er der Horchende
und dann der Gehorchende,
zunächst der Wahrnehmende und
dann der Agierende.
Wahrnehmen kommt vor Tun,
Hören vor Handeln,
Meditation kommt vor Aktion,
Sammlung vor Sendung.
Das Tun folgt dem Wahrnehmen,
so wie die Himmelsbeobachtung der Weisen ihrer Pilgerfahrt
vorausgeht und ihre Reise dem Stern folgt und ihr Weg dem
Fingerzeig, der Weisung des Boten.
Ihr Handeln ist zwar
notwendig, um ihr Ziel zu erreichen, doch ist es nur Folge,
Ausführung der empfangenen Weisung.
Vernehmen und entsprechend
dem Vernommenen handeln, ist das dem Menschen gemäße und das
ihn kennzeichnende. Des Menschen Aufgabe ist es, immer
aufmerksamer, immer achtsamer zu werden.
Wahrnehmen, die Sinne öffnen:
Ohren, Augen, Hände, das Gemüt, den Geist, das Herz!
Und immer williger, immer
bereiter und fähiger, dem Wahrgenommenen zu folgen und
entsprechend der erhaltenen Weisung zu handeln.
Die Sterndeuter brauchten den
Fingerzeig von oben, um nicht in die Irre zu gehen.
Gerade in dieser wichtigen
und kritischen Stunde bedurften sie – wie so oft auf ihrer
Reise – des überirdischen Hinweises, der göttlichen Führung,
um nicht fehlzugehen.
Auch die Sterndeuter
schlafen.
Aber sie sind – zumindest
einer von ihnen – spürsam, fühlig für den Anstoß, vernehmend
für die Weisung.
Sie lassen sich anrühren,
wecken, stehen auf und gehorchen und folgen den Winken
Gottes.
In der Pfingstsequenz heißt
es: „Du Finger Gottes, der uns führt“.
Gott winkt allerdings nicht
mit dem Zaunpfahl, geschweige denn mit dem Scheunentor,
sondern eher sacht, sanft, behutsam.
Er schreit nicht und lärmt
nicht.
Er spricht eher leise, oft
sehr leise, fast überhörbar.
Er berührt zärtlich.
Es bedarf großer
Sensibilität, Achtsamkeit, Feinfühligkeit, um wahrzunehmen.
Wer abgestumpft ist,
abgebrüht, verhärtet, wird nichts spüren, nichts wahrnehmen,
nichts vernehmen.
„Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet
nicht euer Herz“ (Ps 95).
In einem Gedicht von Nelly
Sachs heißt es:
„Wenn die Propheten
einbrächen
durch die Türe der Nacht
und ein Ohr wie eine Heimat
suchten,
würdest du hören?
Hättest du ein Herz zu vergeben?“
Und ebenso Nelly Sachs:
„Ihr Ungeübten, die in den
Nächten
nicht hören. Viele Engel sind
euch gegeben,
aber ihr seht sie nicht“
Kommt auch zu uns noch ein
Engel?
Ein Licht in der Dunkelheit?
Ein Stern in der Nacht?
Orientierung in
Ausweglosigkeit?
Klarheit in Verwirrung?
Wer öffnet uns den Blick über
uns hinaus?
Kommt auch zu uns noch ein
Engel?
Der Mensch, der mich anrührt?
Das Wort, das mich bewegt?
Die Not, die mich trifft?
Das Glück, das mir
widerfährt?
Die Sorge des Nächsten?
Ein Ereignis oder Erlebnis,
da betroffen macht?
Merke ich den Wink?
Spüre ich den Fingerzeig?
Höre ich die leise Stimme?
Nehme ich die behutsamen
Impulse wahr?
Bin ich offen? Bin ich
ansprechbar?
Oder bin ich ein seelischer
„Dickhäuter“, den alles kalt lässt,
der nicht mehr aufwacht zu
Besinnung und Umkehr,
der eigentlich schon „tot“
ist?
Wie sollen wir hören
angesichts des Lärmes um uns und in uns?
Wie sollen wir wahrnehmen
angesichts der lauten Töne, der vielen Stimmen, der
schrillen Bilder?
Nehme ich den göttlichen Rat,
die Einsprechungen des Heiligen Geistes ernst? Lasse ich mich
stören?
Lasse ich mich herausholen
aus Bequemlichkeit und Resignation?
Lasse ich mich ein? Oder dreh
ich mich um, schlafe weiter, mach weiter wie bisher,
gehe zur Tagesordnung über,
verschließe mich, will meine Ruhe.
Alles bleibt beim Alten,
alles geht weiter im gleichen Trott?
Vielleicht kann ich für dich,
vielleicht kannst du für mich ein Engel sein? (vgl. 2 Petr.
1, 16 - 19; Gl. 111,4 )
Hat Gott mich auch schon
einmal „aufgeweckt“ und mir eine neue Richtung
gezeigt?
Winke, Fingerzeige Gottes in
meinem Leben...
Wo finde ich Orientierung,
Sinn und Ziel?
Wo, wie, wodurch fühle ich
mich gegenwärtig berührt, angesprochen?
Ist es Zuspruch oder
Anspruch? Oder beides zugleich?
In welche Richtung bin ich
unterwegs?
Wo will Gott mich haben?
Bin ich mit meinem Leben auf
der richtigen Spur? |