Menschen unterwegs.
Alle in eine Richtung. Von links nach rechts, unaufhaltsam, leicht
gebückt. Ein Strom von Menschen – wie von einem Sog gezogen. Frauen,
Männer, Kinder, namenlos,
ohne Gesicht, hintereinander, nebeneinander – wie auf der Flucht.
Vielleicht auch vorbei aneinander – zur nächsten Aufgabe, zum nächsten
Ziel, zum nächsten Erfolg. Jede geht ihren, jeder geht seinen Weg.
Das Bild
zeigt nur einen Ausschnitt aus der Schar der Menschen, die
vorüberziehen. – Ist so unser Leben, getrieben, eilend, hastend,
geschäftig? Die Augen stur nach vorn. Nur nicht nach rechts oder links
schauen! Jeder für sich. Jeder mit sich selbst beschäftigt. Ohne
Aufmerken, ohne Achtsamkeit für den anderen.
Ist so
unser Leben? Ein verschwommenes Nebeneinanderher?
Jeder
macht sein Ding. Alltägliche Unrast, alltäglicher Trott, alltägliche
Gleichgültigkeit.
Aber da
sind auch Farben zu sehen, durchaus vielfältig: rot, blau, grün, lila...
Sie kennzeichnen die Menschen als ganz verschieden, mit je eigener
Geschichte, mit je eigenem Schicksal und Leben. Die Farbigkeit der
gehetzten Menschen lässt ahnen, dass jeder Einzelne in der großen Menge
einmalig ist, kostbar, geliebt.
Und doch
liegt alles irgendwie unter einem Grauschleier. Das Individuelle und
Einzigartige geht in der Masse unter, hat keine Konturen, keine
eindeutige Gestalt.
Mitten
durch die Menschenmenge geht ein Riss, in voller Länge – wie ein Blitz,
von oben nach unten. Ein heilsamer Riss. Der Strom der Vorüberziehenden
wird unterbrochen. Licht bricht herein, golden, leuchtend. Menschen
werden erkennbar. Sie stechen aus dem trostlosen Einerlei heraus.
Gesichter sind zu sehen. Eine Familie: Vater, Mutter und
Kind,
mit warmen Farben gemalt.
Die
Mutter trägt das Kind behutsam auf ihrem Arm. Das Kind schmiegt sich an
die Mutter. Der Vater legt schützend seine Arme um beide. Sein Blick
geht sorgend zu der Frau und dem schlafenden Kind. Sie scheinen
eingebettet, aufgehoben wie in eine schützende Höhle. Da ist Ruhe und
Sicherheit
Ein Spalt breit Weihnachten.
Maria und das schlafende Jesus-Kind. Josef, der hütet und birgt. Ein
Spalt breit Menschwerdung, nur ein Spalt breit, aber doch deutlich,
leuchtend und klar.
Da, wo solche Liebe,
solche Geborgenheit – mitten im Getriebe, mitten in Gleichgültigkeit –
erfahrbar wird, auch heute, auch in unserem Leben, da ist Weihnachten,
da wird Gott immer wieder neu Mensch.
Eine Utopie?
Ist denn die Welt menschlicher geworden seit diesem Riss? Müsste nicht
der gold-gelbe Strahl alles Dunkel vertreiben? Müssten nicht mehr
Menschen sich von dem Lichtstrahl berühren, treffen und erleuchten
lassen, heraustreten aus der gestaltlosen Masse und sich nicht weiter
treiben lassen vom Strom der Vorüberziehenden? Müssten nicht noch mehr
Menschen auf einander zugehen, sich einander zuwenden, sich gegenseitig
stützen, Liebe und Geborgenheit schenken?
Weihnachten bedeutet:
Gott ist eingebrochen in unsere Welt. Sein Licht, sein Friede, seine
Liebe haben Hand und Fuß bekommen, haben Menschen erfasst, durchdrungen
und erfüllt: Jesus, Maria und Josef.
Es liegt an uns,
den Spalt breiter und weiter werden zu lassen. Es liegt an uns, die
Menschwerdung weitergehen zu lassen.
Dazu
braucht’s oft gar nicht viel. Manchmal reicht es schon, den Kopf einmal
ein bisschen zur Seite zu drehen und nach dem Menschen neben mir zu
schauen, ihn wahrzunehmen, achtsam und hilfsbereit.
Josef –
noch halb im Schatten – hält inne, wendet sich um. Er schenkt – gegen
den Strom stehend – Aufmerksamkeit, gewährt Schutz und Geborgenheit.
Wo
Menschen so für andere da sind, treu zueinander stehen, Verantwortung
übernehmen, da leuchtet das Licht des Himmels hinein in unsere
Wirklichkeit. Der Himmel reißt auf. Das Reich Gottes ist nahe. Himmel
und Erde berühren sich.
Maria –
mit feinen, klaren Konturen gezeichnet – ist in die gleiche Richtung
gewandt wie alle anderen und sticht doch deutlich heraus. – Sie blickt
ernst. Ahnt sie, was ihr Sohn auf sich nehmen wird? Ahnt sie, was auf
sie selbst zukommt? Aber sie weiß und vertraut: Gottes Güte hat kein
Ende und seine Treue hört nicht auf. – Maria sieht uns an, dich und
mich. Ermutigend, liebevoll, fragend, auffordernd…?
Und das Kind?
Das ist die große Herausforderung an uns. Der da kommt, um die Welt zu
retten, er schläft. So geborgen, so sicher, so fest, weil es Menschen
gibt, die auf ihn achten. Menschen mit aufmerksamen, sorgenden
Gesichtern. Voll Liebe. Menschen mit großen schützenden Händen.
Die Künstlerin Beate Heinen
hat dem Bild den Titel gegeben: „O Heiland reiß die Himmel auf!“
– Man kann es auf dem Bild buchstäblich sehen: diesen heilsamen,
lichtvollen Riss!
Gott hat wahr gemacht,
was Menschen seit uralten Zeiten erfleht und ersehnt haben. Er hat den
Himmel geöffnet. Gold schimmert hindurch. Gold als Zeichen für das
Göttliche, das Ewige. Gott hat sein Licht auf dieser Erde erscheinen
lassen. Er ist einer von uns geworden im Kind von Bethlehem, im Mann aus
Nazareth.
Josef und Maria mit dem Kind
sind vom Licht berührt. Sie hat der goldene Schein getroffen. Wenn
dieses Kind erwachsen ist, wird es von sich sagen: „Ich bin das Licht
der Welt!“ Und weiter: „Wer an mich glaubt, wandelt nicht in der
Finsternis. Er wird das Licht des Lebens haben.“ – Aber stimmt nicht
auch das: dass die Menschen – zumindest scheint es oft so – „die
Finsternis mehr lieben als das Licht“?
„O Heiland reiß die Himmel auf!“
– So fängt auch ein bekanntes Adventslied an. Der Jesuitenpater
Friedrich Spee hat es im 30-jährigen Krieg, als die Pest ganz schlimm
wütete, gedichtet. Und darin die dringende Bitte: „O Sonn, geh auf! Ohn‘ deinen Schein in Finsternis wir
alle sein.“
Stellen
wir uns in das Licht dieser Sonne, die Christus ist! Lassen wir uns von
seinem Licht und von seiner Liebe bescheinen. Lassen wir uns davon
umhüllen, wärmen und erleuchten. Nehmen wir es in uns auf!
Und
lassen wir Licht und Liebe durch uns hindurchscheinen in unsere
Umgebung. Damit auch andere Menschen davon berührt und erfasst, davon
durchdrungen und erfüllt werden, auf dass es heller und wärmer wird
unter uns.
„Im
Strom der Zeit.
Du
ziehst mit uns.
Wir
sind wie Flüchtende, Vertriebene.
Auch
Du warst ein Flüchtling.
Wir
suchen Heimat, Geborgenheit, Liebe.
Suchst
nicht auch Du Heimat in uns,
in
jedem von uns?
Willst
du nicht, dass in uns der Himmel aufreißt
Und Du
selbst hindurchscheinen kannst?
O
Heiland, reiß die Himmel auf!“
Beate
Heinen |