Samuel war eine herausragende
Führergestalt des Volkes Israel, eine charismatische Persönlichkeit voll
Kraft und Glauben.
Samuel
wurde zum Richter in Israel berufen. Er durfte Saul zum ersten König
salben und nach dessen Versagen den großen König David.
1.
Vorgeschichte: Dem Herrn geweiht
Die Berufungsgeschichte des Samuel ist
eng verbunden mit seiner Kindheitsgeschichte. – Sein Vater war Elkana.
Er lebte in Rama und hatte zwei Frauen, Hanna und Peninna. Peninna hatte
Kinder, Hanna keine. Sie war darum dem ständigen Spott der Peninna
ausgesetzt. Das Ausbleiben des Kindersegens belastete sie ungemein.
Die Familie machte Jahr für Jahr eine
Wallfahrt nach Schilo. Schilo, südlich von Sichem gelegen, war damals
ein überregionales Kultzentrum. Wir können es vergleichen mit einem
zentralen, großen Wallfahrtsort wie vielleicht Altötting oder
Einsiedeln. In diesem Heiligtum befand sich unter der Obhut des
Priesters Eli die Bundeslade.
In ihrem Gram betete Hanna dort innigst
um einen Sohn und gelobte dem Herrn, wenn er ihr geschenkt würde, ihn
für sein ganzes Leben lang dem Herrn zu weihen und dem Dienst am
Heiligtum zu überlassen. – Ihre Bitte wurde erfüllt, wie es Eli der
trauernden und weinenden Hanna zugesagt hatte.
Als der Knabe Samuel so herangewachsen
war, dass er dem Dienst am Heiligtum übergeben werden konnte, brachte
Hanna ihn zu Eli, dem Priester am Heiligtum. Damit verbunden brachte
Hanna ein Opfer dar und sang ein Loblied, das Hannalied.
Samuel, dem Herrn geweiht, bleibt in
Schilo und unternimmt unter der Aufsicht Elis Dienste im Heiligtum.
Gott segnete Hanna mit weiterer
Schwangerschaft: Noch drei Söhne und zwei Töchter brachte sie zur Welt.
Da, wo nichts ist – die Unfruchtbarkeit
Hannas - erweckt Gott sich seine Boten. Gott setzt gern im Leeren an. So
ist es ganz sein Werk.
Weiter erfahren wir in der
Vorgeschichte zur Berufung des Samuel etwas über die
Söhne Elis. Es heißt: „waren
nichtsnutzige Menschen. Sie kümmerten sich nicht um den Herrn“ (2, 12).
Sie beachteten den Opferritus nicht mehr
und bereicherten sich schamlos an den Opfergaben der Gläubigen.
Schon kam die Drohwarnung eines
Gottesmannes zu Eli: Gottes Gericht sei nahe: Elis Söhne sollten
an einem Tag dahingerafft werden und in seinem Geschlecht sollte
es nie mehr einen alten Mann geben. Alle Männer würden in der
Lebensmitte sterben müssen. - Es ist als wanderte Gottes Segen weg vom
dortigen Priestergeschlecht.
Mit Samuel schafft Gott einen neuen
Anfang. Mit ihm entsteht eine neue Epoche, eine neue Nähe zwischen Volk
und Gott: „Ganz Israel“ (3, 20) „von Dan bis Beerscheba
erkannte, dass Samuel als Prophet Jahwes beglaubigt war.“
2.
Die Situation:
Gottferne
Doch wir sind weit vorausgeeilt. Wir
befinden uns bei der Kindheits- und Berufungsgeschichte des Samuel.
Samuel ist noch ein kleiner Junge im Dienst des Herrn am Heiligtum von
Schilo.
Die Situation, in der Samuel in den
Dienst des Herrn hineinwächst, hat nichts Erneuerndes, Lebendiges,
nichts Strahlendes und kraftvoll Begeisterndes. Sie ist eher kläglich
und schmählich, eher traurig und deprimierend.
Aber ist es nicht eine Situation, die uns
gerade deswegen zu Herzen gehen und zuinnerst bewegen kann?
Vielleicht ähnelt diese Situation sogar
der unsrigen in Kirche, Orden und Gemeinden. Vielleicht können wir
gerade heute wieder gut nachempfinden, was die Samuel-Geschichte
erzählt.
a. seltene Worte
Es heißt: „In jenen Tagen waren Worte
des Herrn selten; Visionen waren nicht häufig.“ (3, 1)
Es ist eine Zeit, in der Gott fern zu
sein scheint, eine Epoche der „Gottesfinsternis“. Er hüllt sich
in Schweigen. Er bleibt in der Verborgenheit. Er offenbart sich nicht,
er zeigt sich nicht.
Gibt es Zeiten, in denen Gott weniger nah
ist, Zeiten, in denen er sich den Menschen weniger offenbart?
Hat er sich gar verabschiedet? – Kann es
sein, dass Gott sich entzieht? Wie kommt das nur? – Oder liegt´s an uns?
Liegt es am Menschen, dass Gott ihm fern zu sein scheint? Sind wir
abgestumpft? Haben wir kein Ohr mehr für seine Impulse, seine Worte?
Sind Auge, Ohr und Herz nicht mehr auf die Zeichen Gottes eingestellt
und wird Gott darum nicht mehr erfahren?
„Worte des Herrn waren damals selten
u. es gab kaum Visionen.“
Ist das nicht in unserer Zeit ähnlich?
Ist Gott nicht für viele Zeitgenossen in unerreichbare Ferne gerückt?
Sie erfahren ihn nicht. Sie spüren von
ihm nichts. Und darum ist er auch nicht relevant für sie. Sie leben ihr
Leben ohne Gott. Andererseits suchen Menschen Gott, sehnen sich nach
Gottesnähe, Gottesunmittelbarkeit, möchten Gott erfahren, zu ihm finden,
sehnen sich nach Gottesbegegnung und Gottes Gegenwart.
Aber wie ihn finden? Wie ihm begegnen?
Wie etwas erfahren von seiner Wirklichkeit, seiner Nähe, von seiner
Gegenwart ? Welche Möglichkeiten und Wege dahin gibt es? Und was braucht
es vom Menschen her dazu? Was kann ich selber tun, dass meine Beziehung
zu Gott wächst, sich vertieft und lebendiger wird?
Wie kann ich aufmerksam, sensibel, spürig
werden für Gott in meinem Leben, für seine Zeichen und Impulse?
„Gott ist ein tägliches Abenteuer,
weil er uns täglich von neuem zu entgleiten scheint und wir täglich nach
ihm suchen müssen.“
b. noch ist die Lampe an
Doch andererseits heißt es auch: „Die
Lampe Gottes war noch nicht erloschen.“ (3, 3) Noch ist die Lampe
nicht aus, noch ist sie an, die Lampe Gottes.
Das klingt zwar tröstlich, aber es ist
kein überwältigender Trost, eher bescheiden, schwach. Der Betrieb läuft
noch, die Geräte funktionieren, noch ist die Lampe an. – Aber wie lange
noch?
Der Letzte macht das Licht aus. Wann wird
es dunkel, stockfinster? – Nähert sich ein bedrohliches, beängstigendes
Vakuum?
Betriebsamkeit in der Kirche auch heute.
Es läuft so manches. Aber ist nicht vieles Leerlauf? Die Räder drehen
sich noch irgendwie. Aber klafft nicht mitten im Betrieb eine Leere?
Jeder sieht, dass die Kirchen leerer werden, dass ein großes Vakuum
entsteht oder schon entstanden ist. Priestermangel, Gläubigenmangel,
Glaubensschwund, wachsender Glaubensverlust, Entchristlichung der
Gesellschaft, Diasporasituation.
c. der Priester Eli
Der Priester Eli hält noch die Stellung
am Heiligtum in Schilo.
Treu und gottergeben tut er seinen Dienst
wie eh und je.
Es heißt freilich: „Seine Augen waren
schwach geworden und er konnte nicht mehr sehen.“ (3, 2)
Blickt er noch durch, was im Heiligtum
läuft? Kann er die Machenschaften noch erkennen, die sich um ihn
abspielen? Erkennt er den Frevelweg seiner ungeratenen Söhne?
Er nimmt zwar wahr, wie pflichtvergessen
sie sind, wie sie nur an sich selbst denken und was sie sich alles
erlauben. Aber er scheint zu schwach zu sein, um ein wirkliches
Machtwort zu sprechen, einzuschreiten und Einhalt zu gebieten.
Es ist eine gewisse Tragik um diesen
alten Mann, um diesen alten Priester. - Ist sein Leben gescheitert?
„Die Lampe Gottes war noch nicht
erloschen.“
Elis Augenlicht war erloschen. Das Licht
Gottes war noch nicht
erloschen. Auch für Eli nicht?
Im Leben Elis gibt es meines Erachtens
drei große Stunden:
Die erste, wo er der kinderlosen Hanna
voraussagt, dass sie schwanger werden wird. Und es geschieht.
Die zweite große Stunde für Eli: wo
er merkt, dass der Herr den Knaben ruft, wo er erkennt: hier ist Gott am
Werk, es ist Gottes Anruf! – Eli macht Samuel aufmerksam, er bringt ihn
auf die Spur und hilft ihm, Antwort zu geben: „Rede,
Herr, dein Diener hört.“
Und dann gibt es noch eine große Stunde
im Leben Elis, am Ende seines Lebens. Eine Stunde der Betroffenheit,
eine Stunde der Reife, dort, wo er sagt: „Es ist der Herr. Er tue,
was ihm gefällt.“ (3, 18)
Man muss den Klang dieser Worte hören.
„Es ist der Herr.“
Es ist ein letztes Bekenntnis, ein
letztes Sich-IHM-Anheimstellen und sich beugen unter die mächtige Hand
Gottes.
„Er tue, was ihm gefällt.“
Man muss bedenken: Eli spricht diese
Worte, nachdem er das Gottesurteil aus dem Mund des jungen Samuel gehört
hat.
3.
Offenbarung
„Samuel schlief im Tempel des Herrn,
wo die Lade Gottes stand.“
Er ruht im Heiligtum, nah bei der
Bundeslade, dem Symbol der Gegenwart Gottes, dem Ort der Offenbarung. Er
befindet sich in göttlicher Ruf- und Reichweite.
Mitten im Dunkel der Nacht geschieht, was
schon lange nicht mehr geschehen ist: Gott tritt aus sich heraus und
äußert sich.
Er lässt sein Wort ergehen wie einst.
Aber das Wort Gottes hat es schwer. Es
hat es schwer, durchzukommen. Es vermag nicht ohne weiteres erkannt zu
werden.
Dreimal muss Gott
ansetzen.
Ob die Menschen im Tempel vergessen und
verlernt haben auf die Anrede Gottes, die jederzeit möglich ist, gefasst
zu sein, ja überhaupt damit zu rechnen?
„Samuel kannte den Herrn noch
nicht und das Wort des Herrn war ihm noch nicht offenbart worden.“
(3, 7)
Tagsüber tut er Dienst im Tempel, nachts
schläft er im Tempel. Samuel lebt sozusagen in unmittelbarer Nähe zu
Gott.
Und doch steht da: „Samuel kannte den
Herrn noch nicht und das Wort des Herrn war ihm noch nicht offenbart
worden.“ (3, 7)
Das gibt es also! Man ist noch nicht reif
für die Gotteserfahrung. Und: man ist in einer religiösen Tradition
aufgewachsen, man lebt im Ritual mit Gott, man hat seine Gebete, man
kennt die Gebote, man hört und liest die Hl. Schrift, man ist vertraut
mit dem Gottesdienst, man führt Glaubensgespräche, man kennt in der
Sakristei sozusagen jede Schublade – und erfährt doch nichts von Gott
und versteht nicht seine Sprache und erkennt nicht seine Stimme.
Doch: „Die Lampe Gottes war noch nicht
erloschen.“
Gottes Geduld wartet. Gottes Treue
bleibt.
Ein alter Priester, blind, schwach,
vergesslich und ein ahnungsloser Knabe – und Gottes Treue bleibt!
„Samuel kannte den Herrn noch
nicht und das Wort des Herrn war ihm noch nicht offenbart worden.“
(3, 7)
4.
Berufung
Samuel muss noch in die Schule der
Erfahrung mit Gott genommen werden. Dreimal muss Gott rufen, bis er
erkennt, dass die Stimme, die ihn ruft, die Stimme Gottes ist, dass
dieses Rufen in der Nacht Gottes Rufen ist und ihn meint, ihn ganz
persönlich.
Und allein, von sich aus, vermag es
Samuel gar nicht. Es bedarf eines anderen, der aufmerksam macht, Rat und
Hilfestellung gibt und ihm sagt, wie er reagieren und sich verhalten
soll.
Hier ist es der alte Eli. Er hat in
seinem Leben Erfahrungen mit Gott gemacht hat. Aber diese Erfahrungen
sind wie zugeschüttet, fast vergessen und es ist mühsam, sie
freizulegen, sie aus dem Abgrund der Erinnerung heraufzuholen.
So sehr hat sich Eli mit dem Schweigen
Gottes abgefunden, dass es drei Anläufe braucht, bis er die Stimme, die
den Knaben ruft, als die lange nicht mehr gehörte Stimme des Herrn
verifizieren kann.
Aber immerhin: Eli lässt sich auf den
jungen, noch unerfahrenen Samuel ein. Er hätte ihn auch anfahren können:
„Du dummer Kerl, was quatschst du die ganze Nacht herum, was redest
du für ein dummes Zeug. Lass mich gefälligst in Ruhe schlafen.“
So reagiert er nicht.
Er bleibt auch ehrlich und gibt
sich nicht selber als Rufer aus. Zweimal hintereinander sagt er ohne
Beschönigung ganz klar: „Ich habe dich nicht
gerufen!“
Vor allem verdankt ihm Samuel die
richtige Deutung des Rufes: „Da merkte Eli,
dass der Herr den Knaben gerufen hatte.“
Eli kann die Erfahrung seines Lebens
und seines Berufes ins Spiel bringen. Er kennt die Tradition früherer
Berufungen und weiht Samuel darin ein. Er hilft Samuel, die Geister zu
unterscheiden. Er lehrt und heißt ihn, für Gott ganz Ohr zu sein,
gesammelte Aufmerksamkeit, ganz bereit, ganz verfügbar.
Elis Aufgabe ist damit erfüllt. Er hat
Samuel Anleitung, Hilfestellung gegeben zum Hören auf Gottes Wort, zum
Gehorsam gegenüber Gott. Jetzt fordert ein anderer, der Größere, der
Allmächtige den jungen Samuel. Und Eli überlässt ihn diesem Größeren.
Jede Berufung hat ihre Geschichte. Am
Beispiel des Samuel sehen wir, wie viel da mitspielen kann und vor
allem, wie sehr sich Gott dabei oft auch der Menschen bedient, bis
jemand wirklich seine Stimme erkennt und dann vom Horchenden zum
Gehorchenden, vom Gerufenen zum Beauftragten und Gesandten wird.
Kennzeichnend für diese
Erzählung ist das dreimalige Nichtverstehen
bzw. Missdeuten des Rufes Gottes durch Samuel. Dass es Gott selber sein
könnte, ist ganz außerhalb seines Horizontes. Der Ruf kommt völlig
unerwartet und so gar nicht außergewöhnlich, so menschlich, so sehr dem
menschlichen Rufen zum Verwechseln ähnlich, dass Samuel meint, Eli habe
ihn gerufen.
Allerdings, - dafür kann das dreimalige
Rufen und Nichtverstehen des Rufes auch ein Hinweis sein: Berufungen
lassen sich nicht einfach programmieren. Sie brauchen Zeit zur Reife,
Zeit zur Prüfung, Zeit der Geduld. Samuel hat einen langen Atem. Er gibt
nicht gleich auf. Er hört nicht auf, aufzustehen und zu Eli zu laufen,
bis dem aufgeht, wer es ist, der den Knaben ruft
Kennzeichnend für diese
Erzählung ist auch die Hinweis – und
Deutungsfunktion Elis, die Vermittlerrolle, die er einnimmt, wobei es
auch bei ihm Zeit braucht, bis es dämmert und er die Deutung zu geben
weiß, die stimmig ist.
Manche Menschen sind heute lange auf der
Suche nach der richtigen Entscheidung. Viele wissen oft nicht, ob ihnen
der Ruf auch wirklich gilt. Da ist es gut, geistliche Begleitung zu
haben, erfahrene Weggefährten zu kennen, die helfen, die noch
undeutliche Stimme zu deuten. Es braucht Leute wie den Priester Eli, die
den entscheidenden Rat geben. Dann aber auch spüren, wann ihre Aufgabe
erfüllt ist, zurückzutreten vermögen, nicht festhalten, sondern
loslassen, um dem Größeren, um Gott Platz zu lassen.
Wenn wir annehmen, dass auch heute noch
Gott Menschen in seinen Dienst beruft, dann dürfen wir davon ausgehen,
dass Gott auch heute – wie damals – Menschen gebraucht, die vermitteln,
auf Gott hinweisen und aufmerksam machen, auf die Spur Gottes bringen,
verdeutlichen, Augen öffnen, zu Gott hinführen.
Woran mangelt es heute? Fehlen uns die
Samuels oder auch die Elis? – Sind wir hellhörig für die verwirrende
Unruhe, die sich in den Menschen, zumal den jungen Menschen regt? Haben
wir ein offenes Ohr dafür? Wer deutet sie? Woher sollen sie wissen, dass
in dem, was ihr Leben aufreißt, der Ruf des Herrn am Werk ist?
Ich glaube nicht, dass es heute zu wenig
Samuels gibt. Aber wo sind die Elis?
Allerdings, wenn ich in anderen die
Hörbereitschaft wecken will, muss sich fragen, wie es bei mir selber
damit steht.
Oder haben wir verlernt, mit dem Anruf
Gottes überhaupt zu rechnen? Wir rechnen mit vielem, auch damit? Oder
rechnen wir mit allem, nur nicht damit?
5.
Gott
ruft mitten in der Nacht
Wir kennen das Sprichwort: „Den Seinen
gibt’s der Herr im Schlaf.“ – Samuel schläft, als alles seinen
Anfang nimmt. Er hat den Tag losgelassen, die Geschäfte des Tempels, die
vielen Menschen, die jeden Tag kommen um zu opfern und zu beten. Jetzt
ist es Nacht und Nächte sind geheimnisvoll. Denn in der Nacht kommt all
das zum Zug, was tagsüber schweigen muss: das Unterbewusste, unser
inneres Gefühl, das nie trügt. Im Schlaf kommt die Wahrheit auf
wunderbare Weise ans Licht: unsere Angst, Sehnsucht, Liebe, unsere
inneren und äußeren Konflikte. In der Nacht tauchen sie auf,
ungeschminkt und wahrhaftig, weil wir uns nicht mehr verstellen.
So ist es auch bei Samuel. Tief in seinem
Innern gibt es eine Stimme, die ihn ruft. Mitten in der Nacht. Nicht am
Tag, beim priesterlichen Dienst, beim sorgfältigen Gebet. Nein, diese
Stimme ruft mitten im Schlaf, wenn alle Dinge aus der Hand gegeben sind.
Und diese Stimme ruft nicht den alten Eli, sondern den jungen Samuel,
nicht den Lehrer, sondern den Schüler, nicht den Erfahrenen, sondern den
Unerfahrenen.
Ich finde das tröstlich.
Manchmal, da geschieht das Eigentliche über Nacht, ohne jedes Zutun.
Manchmal, da ist Gottesstunde, einfach so. Nicht weil wir bei wachem
Verstand sind, weil wir aufmerksam unsere Pflicht tun, sondern weil wir
alles loslassen. Dann kommt Gott. – Und dieser Gott, so behaupte ich,
schlummert auch in uns. Wenn wir uns Zeit lassen, wenn wir tief in uns
gehen, wenn wir die alltäglichen Beschäftigungen einmal weglassen, dann
wird auch in uns der Ruf Gottes hörbar, unerwartet, aber immer lockend
und liebevoll.
Gott ruft auch uns beim Namen, wenn
wir nur still werden, wenn wir nur genau hinhören.
6.
Beim
Namen gerufen
Bevor Gott sich dem Samuel offenbart,
ruft er ihn bei seinem Namen. Im Alten wie im neuen Testament gibt es
viele Beispiele, wie Gott Menschen mit Namen ruft. Der doppelte
Namensruf kommt im Alten Testament nur vier Male vor: bei Abraham (Gen 22, 11), Jakob
(Gen 46, 2) und Mose (Ex 3) und hier.
In alten Erzählungen haben Namen eine
besondere Bedeutung. Den Namen von jemanden zu kennen, bedeutet Macht
über ihn zu haben (Vgl. Das Märchen vom Rumpelstilzchen). Namen in der
Bibel sagen in ihrer Bedeutung oft auch etwas über ihren Träger und
dessen Eigenschaften, Charakteristika oder seine Lebensaufgabe aus. Mose
z. B. heißt: „Der aus dem Wasser Gezogene“. Der Name Samuel
bedeutet: „Der von Gott Erbetene“.
Wenn ich mit meinem Namen angesprochen
werde, weiß ich unmissverständlich: ich bin gemeint. Wenn jemand sich
mit „hör mal“ oder „du da“ an mich wendet, kann ich so tun
als gehe mich das nicht an. Ich brauche mich nicht unbedingt betroffen
fühlen. Ein solcher Anruf kann auch jemanden gelten, der bei mir, vor
oder hinter mir steht. Ich könnte mich schnell wegdrehen, mich abwenden
und mich der Anrede entziehen. Aber wenn mich jemand mit Namen anruft,
da bin ich persönlich gemeint – unverwechselbar, unausweichlich.
Unser Name, speziell unser Vorname,
begleitet uns von der Wiege bis zur Bahre. Er gehört uns. Er ist ein
Teil von uns.
Wir haben es nicht gern, wenn unser Name
verhunzt wird.
Und eine der tiefsten
Niederträchtigkeiten ist es, dem Menschen seinen Namen zu entziehen und
ihn nur noch mit einer Ziffernfolge zu bezeichnen, wie es immer wieder
in Unrechtsregimen geschehen ist.
Ein Gotteswort beim Propheten
Jesaja (43, 1) lautet: „Ich habe dich bei deinem
Namen gerufen. Mein bist du.“
In der Offenbarung des Johannes sagt
Gott: „Niemals werde ich Eure Namen aus dem Buch des Lebens
streichen.“ (vgl. 3, 5)
Der Name ist die persönlichste Form der
Anrede. Jede Handlung wird intensiver wahrgenommen, wenn der Betroffene
dabei mit Namen angesprochen wird. Wenn zwei, die sich gern haben,
einander umarmen, ist vielleicht ihr Herz so voll, dass sie gar kein
Wort finden, sondern nur den Namen des anderen sagen. Im Aussprechen des
geliebten Namens liegt alles, was das Herz bewegt und der Mund nicht
sagen kann.
7.
Ruf und
Antwort
Gott ruft. Gott erwählt. „Nicht ihr
habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt.“ Die Initiative
geht von Gott aus.
Gottes Ruf sucht Antwort. Samuel zeigt
uns, wie das geht.
Er sagt jenes:
„Hier bin ich. Rede, Herr, dein Diener hört.“
Hier bin ich.
Es ist ein großes Wort. Es öffnet einen Raum.
Hier bin ich.
Es ist nicht abgesichert, dieses Wort. Es ist riskant.
Hier bin ich.
Ich stehe zur Verfügung. Ohne Wenn und Aber.
Hier bin ich:
Ich bin bereit. Wirke durch mich! Sende mich!
Was hätten wir gesagt, mitten in jener
Nacht?
Vielleicht: Lass mich schlafen, Gott.
Warum rufst du gerade mich? Was willst du von mir? Stör mich nicht! Lass
mich doch in Ruhe!
Und Samuel sagt:
Hier bin ich. Wenn der Anfrage
Gottes, so eine Antwort folgt, dann kann es nur gut werden, nicht
unbedingt leicht, kein unbeschwertes Leben, kein Spaziergang, kein Leben
im Schaukelstuhl, aber gut. Hier bin ich.
Gott hat Priorität, heißt das. Gott, die Realität meines Lebens.
Gott tritt beherrschend in die Mitte meines Lebens.
Hier bin ich. Gott hat Vorfahrt
vor den tausend Dingen meines Lebens. Sein Wille soll gelten.
Wie wäre es, das auszuprobieren? Jeden
Tag auf die innere Stimme zu hören, mit der Gott mich herausruft. Und
jeden Tag sagen: Hier bin ich, Gott. Ja, ich höre dich. Und ich möchte
dir Antwort geben durch mein Leben.
Hier bin ich,
wenn ich arbeiten muss. Hier bin ich, wenn ich mich von der
Arbeit erhole. Hier bin ich, wenn das Leben glatt geht. Hier
bin ich, wenn alles schief läuft. Hier bin ich. Ich bin vor
dir, Gott. Ich lebe mein Leben unter deinen Augen. Ich vertraue dir. Ich
gehe den Weg, dessen Ziel du bist. Hier bin ich.
Es hat mit Offenheit zu tun, Offenheit
auf Gott hin. Und mit Verfügbarkeit. Sich Gott zur Verfügung stellen.
Gott wirken lassen bei mir, in mir, durch mich.
Die Antwort auf den Ruf Gottes, das
Ja-Wort, das Ja der Bereitschaft, das ja des Glaubens und des Gehorsams
muss jeder selber sprechen. Das kann einem niemand abnehmen. Diesen
Schritt muss jeder selber tun. Andere – wie in unserer Erzählung Eli –
können begleiten, hinführen, Impulse setzen, Hilfestellung geben. Die
Schwelle muss jeder in eigener Verantwortung überschreiten. Ich bin
gefragt. Die letzte Entscheidung kann mir niemand abnehmen.
Habe ich den Mut, mich ganz und
vorbehaltlos auf Gott einzulassen. Das ist eine Frage auch an mein
Gottvertrauen.
Hier bin ich.
Es ist ein Wort, das uns auch frei machen kann.
Weil wir das Leben nicht mehr in unserer
eigenen Hand halten müssen. Gott hält es. Er hält uns, was immer
geschieht. Gott führt und leitet. Seine Liebe, seine Kraft geht alle
Wege mit.
Alfred Delp:
„Wir können dem Leben trauen, weil wir es nicht allein zu
leben haben, sondern weil Gott es mit uns lebt.“
Psalm 23: „Ich fürchte kein Unheil. Du
bist bei mir.“
D. Bonhoeffer: „Gott ist mit uns am Abend
und am Morgen…“
8.
Selig,
wer schläft
Da ist noch ein Wort in der Erzählung,
das wir nicht überhören sollten: „Samuel blieb bis zum Morgen liegen,
dann öffnete er die Türen zum Haus des Herrn.“ (V. 15)
Kaum zu fassen: Gott hat den jungen
Samuel gerufen. Und die Botschaft, die er auszurichten hat, ist nicht
von Pappe.
Es kommt einiges auf ihn zu: Er soll das
Gericht ankündigen.
Er soll nicht nur sagen: Macht so weiter,
es ist alles okay.
Nein, er soll sagen: So kann’s nicht
weitergehen.
Mit dieser Botschaft wird er sich keine
Freunde machen.
Er wird anstoßen. Das alles könnte ihm
schon schlaflose Nächte bereiten.
Und Samuel bleibt liegen bis zum
Morgen... Ein tröstliches Wort!
Ich weiß nicht, ob Sie das „Geheimnis
der Hoffnung“ von Charles Peguy kennen:
„Leute, welche nicht schlafen, mag ich
nicht leiden, sagt Gott.
Der Schlaf ist des Menschen Freund.
Der Schlaf ist Gottes Freund...
Wer nicht schlafen kann, bricht der
Hoffnung die Treue...
Selig, wer überlässt. Das heißt:
Selig, wer hofft. Und wer schläft.“
Wir hoffen nicht auf uns selbst. Und
darum brauchen wir nicht ans Werk zu gehen, wie jene, die keine andere
Hoffnung haben als sich selbst. Gott trägt uns. Sein Ruf will uns nicht
schlaflos machen. Im Gegenteil: „Es ist umsonst, dass ihr früh
aufsteht und euch spät erst niedersetzt, denn der Herr gibt es den
Seinen im Schlaf.“ (Ps 127,2)
9.
Besinnungsfragen
Jeder
hat seine Wahrheitsstimme, die Stimme seines Wesens, durch die Gott
spricht.
„Ganz leise spricht ein Gott in
unserer Brust,
Ganz leise, ganz vernehmlich,
zeigt uns an,
Was zu ergreifen ist und
was zu fliehn.“ (Goethe)
Was tue ich, dass ich diese Stimme
vernehmen kann?
-
Ich gehe in der Erinnerung den Weg zurück durch meine
Lebensgeschichte: Wo war deutlich ein Anruf Gottes? Gab es eine
Lebensstunde, in der der Anruf Gottes besonders eindringlich wurde?
Wie war mein Hören und Gehorchen? Mein Vorbeileben und mein
Vergessen?
-
Samuel weiß zunächst nicht, dass Gott es ist, der
ruft. Manchmal erscheinen uns die Zeichen, erscheint uns ein Anruf
mehrdeutig. Was können wir tun, zur Klarheit zu kommen? (Einen
Erfahrenen um Rat fragen; sehen, ob mehrere Zeichen in eine Richtung
weisen; einige Zeit mit einer Deutung zu leben versuchen und
sehen, wie es sich auswirkt.)
-
Gott spricht im Wort der Offenbarung.
Wie und wann kann das Wort der Offenbarung (der Bibel) mein Wort
werden, Anruf an mich?
-
Kann ich zuhören? Was beeinträchtigt
bei mir die Aufmerksamkeit? Was kann ich tun, die Kraft der
Aufmerksamkeit, die Fähigkeit zum Hören zu stärken?
-
Wie kann ich fühlig, spürig werden
für Gott in meinem Leben, achtsam für seine Zeichen, Hinweise und
Impulse?
-
Wie kann ich in meiner Lebenswelt
etwas von Gott erfahren, von seiner Wirklichkeit, von seiner Nähe,
seiner Gegenwart? Welche Möglichkeiten sehe ich, welche nehme ich
wahr?
-
Was kann ich tun, damit meine
Beziehung zu Gott sich vertieft, wächst, lebendiger wird?
-
Das Hören lebt von der Stille. Gibt
es stille Momente in meinem Alltag, Zonen der Ruhe und Sammlung,
Zeiten des Schweigens und der Innerlichkeit?
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