Als ich vor einigen Monaten in
Freiburg war, habe ich an einer Hauswand die Frage hingesprüht gesehen:
„HEUTE SCHON GELEBT?“ - Diese drei Grafitti-Worte sind mir im
Gedächtnis geblieben, obwohl ich sonst für Farbmalereien an Mauern und Wänden
nicht viel übrig habe.
„HEUTE
SCHON GELEBT?“
Die Frage hat mich nachdenklich gemacht. Erfahre ich mich als lebendiger
Mensch? Lustvoll, spontan, initiativ, mit Elan und Frische, in Bewegung, in
Entwicklung, in Beziehung zu anderen? - Oder läuft das Leben an mir
vorbei? Habe ich mich aus dem Leben zurückgezogen? Vergrab ich mich? Habe ich
den Lebensmut verloren, sehe keinen Sinn mehr, fühle mich am Ende? Habe keine
Erwartungen mehr? Alles ist mir egal. Nach mir die Sintflut. Es stinkt mir
alles.
„HEUTE SCHON
GELEBT?“
Es gibt nicht
nur am Ende einmal das Grab auf dem Friedhof. Nein, es gibt die Gräber
erstarrten, erdrückten, abgestorbenen Lebens jetzt schon! – Gräber, in die man
sich selber hineinmanöveriert oder in die einen andere hineingedrängt haben.
„HEUTE SCHON
GELEBT?“
Kennen
wir nicht alle Momente oder Phasen, in denen man sich „mehr tot als
lebendig“ fühlt? Augenblicke und Situationen, wo man sich „total
erledigt“ oder „restlos am Ende“ vorkommt, die Erfahrung „wie tot“
zu sein, obwohl natürlich der Atem noch geht und das Herz noch schlägt?
Es gibt
auch Situationen, wo einen Blicke töten, ein Wort uns tödlich verletzen,
einen regelrecht umhauen kann. Es gibt das Mundtotmachen unter Menschen, auch
das Totschweigen und die Totenstille (auch in christlichen Gemeinden und
klösterlichen Gemeinschaften).
Es gibt
Beziehungen, die sind so verfahren und aussichtslos am Nullpunkt, dass der
andere für einen „erledigt“ ist, „lebendig tot“.
Manchmal sagen wir:
Mit dem ist nichts los. Der kann sich einbalsamieren lassen. Den
kannst du vergessen. Der ist für mich gestorben. Werden da nicht Menschen in
Leinentücher eingewickelt und lebendig begraben? Bereitet sich da nicht der
Geruch des Todes aus wie bei Lazarus, der schon vier Tage im Grab liegt?
„HEUTE SCHON
GELEBT?“
Es wird viel
gestorben in unserer Welt.
Ich meine nicht nur
den Tod nach dem letzten Atemzug, die vielen Verkehrstoten, Krebstoten usw.
Tod nicht nur als der leibliche Tod, sondern als schmerzliche Wirklichkeit
davor. Wir sind mitten im Leben auf vielerlei Weisen vom Tod umfangen und keine
Todesanzeigen machen eine Notiz davon. Das Tödliche hat viele Namen und
Gesichter. Ich denke an den Tod der Beziehungslosigkeit, der Gefühlsstarre, der
Angst. Es schnürt uns die Kehle zu. Es nimmt uns die Luft zum Atmen. Man kommt
sich eingesperrt vor wie in ein Grab. Da ist es eng und dunkel und muffig.
Beim
Propheten Ezechiel heißt es: „So spricht Gott der
Herr, ich öffne eure Gräber und hole euch aus euren Gräbern heraus!“
Gemeint waren nicht die Gräber auf den jüdischen Friedhöfen in Israel,
sondern das Volk in der babylonischen Gefangenschaft. Es befand sich in
einer hoffnungslosen Lage, eingeschlossen wie in ein Grab, mehr tot als
lebendig. Doch der Prophet verheißt das beinahe Undenkbare: die Rückkehr
der Verbannten, die Heimkehr in ihr Land. Gott wird sein Volk
herausführen wie einst aus Ägypten, es aufrichten und ihm neues Leben schenken.
Jesus ruft am Grab von Lazarus:
„Wälzt
den Stein weg!“
(Weg mit dem Stein!) – „Bindet ihn los!“ (Weg mit den Leinentüchern!) -
„Lazarus komm heraus!“ (Heraus aus deiner Totenhöhle!)
Die
Grundbewegung heißt: Heraus aus den Gräbern!
Aus den Gräbern
der Angst, der Resignation, der Enge, der Isolation, der Traurigkeit und der
Verzweiflung!
Die
Grundbewegung geht ins Weite, ins Licht, ins Vertrauen, hin zu neuen Ufern
und Horizonten.
Nicht
der Tod und auch nicht die vielfältigen Tode vor dem Tod sind das Letzte.
Wo
wir am Ende sind, ist Gott nicht am Ende. Wo wir nicht mehr weiterwissen,
fängt Gott erst an. Wo wir keine Rettung mehr sehen, ist für Gott noch
alles möglich. Die Mitte der Nacht ist der Anfang eines neuen Tages. Der
Tiefpunkt wird zum Ausgangspunkt für neue Hoffnung. Nicht der Tod hat das letzte
Wort, sondern das Leben. Gott ist und bleibt ein Liebhaber des Lebens. Er
will, dass wir das Leben haben und es in Fülle haben.
„LAZARUS KOMM HERAUS“,
ruft Jesus
Setzen wir für Lazarus unseren eigenen Namen ein!
„N.“
komm heraus aus der Höhle deiner Selbstverschlossenheit, aus dem Kreisen um dich
selbst, aus deiner Engherzigkeit, aus deinem Misstrauen, aus deinen
Minderwertigkeitskomplexen oder auch aus deinem Stolz!
Komm
aus dem Grab deiner Angst, aus deiner Lieblosigkeit, aus deinen falschen
Anhänglichkeiten und Abhängigkeiten, deinen Süchten und deiner Gier!
Komm
heraus!
Steh auf aus deiner Sünde! Werde ein neuer Mensch! Lass dich herausholen aus
deinen Gräbern.
Komm heraus ins
Leben!
„WÄLZT
DEN STEIN WEG“,
ruft Jesus.
Wenden wir auch das auf uns selbst an!
Was hält mich
vom Leben ab? Welche Steine liegen auf mir, die hindern, blockieren, mich
erdrücken, Leben ersticken? Ängste, Hemmungen, die Unfähigkeit, mich selbst
anzunehmen?
„Wälz den Stein weg“
der Enttäuschung, des Grolls, der Verbitterung, den Stein der Sturheit und
Hartherzigkeit. Bei Gott ist kein Mensch verloren. Er schreibt niemanden ab. Bei
ihm ist die Tür immer offen. Auch du hast mehr Spielräume und
Möglichkeiten als du denkst. Wälz den Stein des Hasses und der Rache weg!
„Hättest nicht auch du Erbarmen haben müssen, wie ich mit dir
Erbarmen hatte?“
Wälz den Stein der Vorwürfe und
Vorurteile weg! Sag nicht: da ist nichts mehr zu machen. Der oder die ist
für mich gestorben! Ein hoffnungsloser Fall!
„BINDET IHN LOS“,
ruft Jesus.
Hören wir auch diese Worte auf uns hin!
Wohinter
verstecke ich mein Gesicht? Was schnürt mich ein? Wo fühle ich mich gefesselt,
innerlich, äußerlich? Habe ich mir selbst diese Fesseln angelegt oder andere?
„Bindet ihn
los!“ – Lass
los, was dich an deine dunkle Vergangenheit bindet! Lass los, was das Leben in
dir tötet!
Leg ab, was
deine Gegenwart erstickt, erdrückt! Sorge für das, was in dir angelegt ist.
Pflege es behutsam! Lass es blühen, wachsen! Werde, was du sein kannst!
Manchmal ist es sehr mühsam, den Stein wegzuwälzen. Es kann arg schwer sein.
Allein schaffen wir es nicht.
Auch
die Binden, die einschnüren und fesseln zu lösen, ist nicht einfach. Wie unfrei
sind wir oft und können uns nicht selbst befreien.
„Wälzt
den Stein weg! Löst die Binden!“
das sagt Jesus zu den Umstehenden.
Lazarus
ist auf die Hilfe anderer angewiesen, dass sie den Stein wegwälzen, dass sie
seine Binden lösen, dass sie ihm helfen, frei zu werden und ins Leben zu kommen.
Auch
wir brauchen den anderen, wir brauchen einander. Wir brauchen die Brüder,
die Schwestern. Wir brauchen geistliche Gemeinschaft, geistliche Begleitung. Wir
sind aufgerufen, von
Jesus gerufen,
einander liebevoll von manchmal zentnerschweren Steinen zu befreien, einander
liebevoll aus Gebundenheiten und Fesseln zu helfen, um als „Auferweckte“
in dieser Welt zu leben.
Liebe Schwestern und Brüder!
Die
Auferweckung des Lazarus ist mehr als eine Wundergeschichte. Es ist eine
Glaubensgeschichte. In ihr geht es nicht darum, dass ein Toter ins Leben
zurückfindet, der dann früher oder später doch wieder sterben muss. Es geht
vielmehr darum, dass ich ins Leben komme. Das Geschehen hat Heilsbedeutung für
uns, die Hörer des Wortes heute.
Denn
„Glauben“ heißt im Johannesevangelium nichts anderes als vom Tod ins
Leben kommen. Aus den Gräbern, wo vorgewälzte Steine und viele Binden
lebensunfähig machen, herauskommen. Herauskommen aus dem Grab der
Selbstsucht und Gottferne in die Nähe Gottes, in die Freude und Freiheit der
Kinder Gottes, in die Beziehung zu dem, der von Grund auf liebt und uns die
Schuld vergibt, der nicht nur Liebe hat, sondern Liebe ist, dessen Wesen Liebe
ist.
„Stark
wie der Tod“ –
ja stärker als alle Tode – „ist die Liebe!“
In
einem Osterlied singen wir: „Wir sind getauft auf Christi Tod und
auferweckt mit ihm zu Gott.“ Und weiter:
„Uns ist geschenkt sein heil`ger Geist, ein Leben, das kein Tod entreißt.“
Darum geht es, um den Glauben
an dieses Geschenk: „sein heil’ger Geist“. Und an diese Wirklichkeit:
„ein Leben, das kein Tod entreißt“.
Wer an
mich glaubt, sagt Jesus, wer auf Gott vertraut, wer auf ihn seine ganze
Hoffnung setzt, muss nicht bis ans Ende der Tage auf seine Auferstehung warten.
Er ist im Glauben bereits auferstanden.
Und so
heißt es in der Präfation beim Totengedenken: „Deinen Gläubigen wird das
Leben gewandelt, nicht genommen.“ Vita mutatur, non tollitur! Für den
Glaubenden ist der Tod eigentlich gar kein Tod mehr, kein Ende, sondern
Wende, nicht Schlusspunkt, sondern alles verheißender Doppelpunkt. Denn
das Leben, das wir in Christus jetzt schon haben und das er uns schenkt
überdauert selbst den Tod. Es ist stärker als der Tod. Wer an Christus glaubt,
hat (nicht wird haben, sondern hat), Anteil am göttlichen Leben. Das
ewige Leben hat in ihm schon begonnen.
Als
Marta einwendet:
„Ich weiß, dass er auferstehen wird, bei der Auferstehung am letzten Tag“,
da sagt Jesus: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich
glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt und jeder, der lebt und an mich glaubt,
wird in Ewigkeit nicht sterben.“ Jesus korrigiert die Antwort der
Marta entscheidend. Und er fügt hinzu: „Glaubst du
das?“
Es war bei einem Trauerfall.
Die
Angehörigen hatten auf das Totenbildchen das Jesuswort drucken lassen:
„Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt,
wird leben auch wenn er stirbt und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird in
Ewigkeit nicht sterben.“
Da habe
ich gefragt, warum sie das Jesuswort nicht ganz genommen haben, warum sie
die Frage weggelassen haben: „Glaubst du das?“
Diese Frage ist ganz wichtig.
Da wird nämlich die ganze Provokation, die in der Lazarusgeschichte steckt,
deutlich.
„Glaubst du das?“
fragt Jesus auch uns. Die Antwort darauf entscheidet, ob wir österliche Menschen
sind oder nicht.
Im
Angesicht des Todes, im Umkreis von Grab und Verwesung, mitten in den vielen
Namen und Gesichtern von Grab und Tod auch heute: glaubst du, dass Jesus das
Leben ist und dass Auferstehung aus der Sinnlosigkeit und den Zwängen des Todes
in seinen vielfältigen Erscheinungsformen schon jetzt möglich ist und geschieht?
Diese
Frage: „Glaubst du das?“ ruft in Marta ein großartiges
Messiasbekenntnis hervor, das sich durchaus mit dem des Petrus messen kann:
„Ja, Herr, ich glaube, dass du der Messias bist, der
Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll.“
Marta
gehört zu den Sterblichen, von denen Jesus sagt: „Wer mein Wort hört und an
den glaubt, der mich gesandt hat, der hat (nicht er wird haben, sondern
der hat) das ewige Leben. Er kommt nicht ins Gericht, sondern ist
(nicht wird, sondern ist) aus dem Tod ins
Leben hinübergegangen.”
Weil Christus die Auferstehung und
das Leben ist, können und dürfen wir jetzt schon als österliche Menschen das
Leben wagen und jetzt schon aus der Kraft der Auferstehung leben, die uns einmal
– unwiderruflich – ganz erfüllen wird.
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