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Die Auferweckung des Lazarus (Joh 11, 1-45; Vortrag zum 5. Fastensonntag - Lesejahr A)
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Als ich vor einigen Monaten in Freiburg war, habe ich an einer Hauswand die Frage hingesprüht gesehen: „HEUTE SCHON GELEBT?“ - Diese drei Grafitti-Worte sind mir im Gedächtnis geblieben, obwohl ich sonst für Farbmalereien an Mauern und Wänden nicht viel übrig habe.
„HEUTE SCHON GELEBT?“ Die Frage hat mich nachdenklich gemacht. Erfahre ich mich als lebendiger Mensch? Lustvoll, spontan, initiativ, mit Elan und Frische, in Bewegung, in Entwicklung, in Beziehung zu anderen? - Oder läuft das Leben an mir vorbei? Habe ich mich aus dem Leben zurückgezogen? Vergrab ich mich? Habe ich den Lebensmut verloren, sehe keinen Sinn mehr, fühle mich am Ende? Habe keine Erwartungen mehr? Alles ist mir egal. Nach mir die Sintflut. Es stinkt mir alles.
„HEUTE SCHON GELEBT?“ Es gibt nicht nur am Ende einmal das Grab auf dem Friedhof. Nein, es gibt die Gräber erstarrten, erdrückten, abgestorbenen Lebens jetzt schon! – Gräber, in die man sich selber hineinmanöveriert oder in die einen andere hineingedrängt haben.
„HEUTE SCHON GELEBT?“ Kennen wir nicht alle Momente oder Phasen, in denen man sich „mehr tot als lebendig“ fühlt? Augenblicke und Situationen, wo man sich „total erledigt“ oder „restlos am Ende“ vorkommt, die Erfahrung „wie tot“ zu sein, obwohl natürlich der Atem noch geht und das Herz noch schlägt? Es gibt auch Situationen, wo einen Blicke töten, ein Wort uns tödlich verletzen, einen regelrecht umhauen kann. Es gibt das Mundtotmachen unter Menschen, auch das Totschweigen und die Totenstille (auch in christlichen Gemeinden und klösterlichen Gemeinschaften). Es gibt Beziehungen, die sind so verfahren und aussichtslos am Nullpunkt, dass der andere für einen „erledigt“ ist, „lebendig tot“. Manchmal sagen wir: Mit dem ist nichts los. Der kann sich einbalsamieren lassen. Den kannst du vergessen. Der ist für mich gestorben. Werden da nicht Menschen in Leinentücher eingewickelt und lebendig begraben? Bereitet sich da nicht der Geruch des Todes aus wie bei Lazarus, der schon vier Tage im Grab liegt?
„HEUTE SCHON GELEBT?“ Es wird viel gestorben in unserer Welt. Ich meine nicht nur den Tod nach dem letzten Atemzug, die vielen Verkehrstoten, Krebstoten usw. Tod nicht nur als der leibliche Tod, sondern als schmerzliche Wirklichkeit davor. Wir sind mitten im Leben auf vielerlei Weisen vom Tod umfangen und keine Todesanzeigen machen eine Notiz davon. Das Tödliche hat viele Namen und Gesichter. Ich denke an den Tod der Beziehungslosigkeit, der Gefühlsstarre, der Angst. Es schnürt uns die Kehle zu. Es nimmt uns die Luft zum Atmen. Man kommt sich eingesperrt vor wie in ein Grab. Da ist es eng und dunkel und muffig.
Beim Propheten Ezechiel heißt es: „So spricht Gott der Herr, ich öffne eure Gräber und hole euch aus euren Gräbern heraus!“ Gemeint waren nicht die Gräber auf den jüdischen Friedhöfen in Israel, sondern das Volk in der babylonischen Gefangenschaft. Es befand sich in einer hoffnungslosen Lage, eingeschlossen wie in ein Grab, mehr tot als lebendig. Doch der Prophet verheißt das beinahe Undenkbare: die Rückkehr der Verbannten, die Heimkehr in ihr Land. Gott wird sein Volk herausführen wie einst aus Ägypten, es aufrichten und ihm neues Leben schenken.
Jesus ruft am Grab von Lazarus: „Wälzt den Stein weg!“ (Weg mit dem Stein!) – „Bindet ihn los!“ (Weg mit den Leinentüchern!) - „Lazarus komm heraus!“ (Heraus aus deiner Totenhöhle!)
Die Grundbewegung heißt: Heraus aus den Gräbern! Aus den Gräbern der Angst, der Resignation, der Enge, der Isolation, der Traurigkeit und der Verzweiflung! Die Grundbewegung geht ins Weite, ins Licht, ins Vertrauen, hin zu neuen Ufern und Horizonten. Nicht der Tod und auch nicht die vielfältigen Tode vor dem Tod sind das Letzte. Wo wir am Ende sind, ist Gott nicht am Ende. Wo wir nicht mehr weiterwissen, fängt Gott erst an. Wo wir keine Rettung mehr sehen, ist für Gott noch alles möglich. Die Mitte der Nacht ist der Anfang eines neuen Tages. Der Tiefpunkt wird zum Ausgangspunkt für neue Hoffnung. Nicht der Tod hat das letzte Wort, sondern das Leben. Gott ist und bleibt ein Liebhaber des Lebens. Er will, dass wir das Leben haben und es in Fülle haben.
„LAZARUS KOMM HERAUS“, ruft Jesus Setzen wir für Lazarus unseren eigenen Namen ein! „N.“ komm heraus aus der Höhle deiner Selbstverschlossenheit, aus dem Kreisen um dich selbst, aus deiner Engherzigkeit, aus deinem Misstrauen, aus deinen Minderwertigkeitskomplexen oder auch aus deinem Stolz! Komm aus dem Grab deiner Angst, aus deiner Lieblosigkeit, aus deinen falschen Anhänglichkeiten und Abhängigkeiten, deinen Süchten und deiner Gier! Komm heraus! Steh auf aus deiner Sünde! Werde ein neuer Mensch! Lass dich herausholen aus deinen Gräbern. Komm heraus ins Leben!
„WÄLZT DEN STEIN WEG“, ruft Jesus. Wenden wir auch das auf uns selbst an! Was hält mich vom Leben ab? Welche Steine liegen auf mir, die hindern, blockieren, mich erdrücken, Leben ersticken? Ängste, Hemmungen, die Unfähigkeit, mich selbst anzunehmen?
„Wälz den Stein weg“ der Enttäuschung, des Grolls, der Verbitterung, den Stein der Sturheit und Hartherzigkeit. Bei Gott ist kein Mensch verloren. Er schreibt niemanden ab. Bei ihm ist die Tür immer offen. Auch du hast mehr Spielräume und Möglichkeiten als du denkst. Wälz den Stein des Hasses und der Rache weg! „Hättest nicht auch du Erbarmen haben müssen, wie ich mit dir Erbarmen hatte?“ Wälz den Stein der Vorwürfe und Vorurteile weg! Sag nicht: da ist nichts mehr zu machen. Der oder die ist für mich gestorben! Ein hoffnungsloser Fall!
„BINDET IHN LOS“, ruft Jesus. Hören wir auch diese Worte auf uns hin! Wohinter verstecke ich mein Gesicht? Was schnürt mich ein? Wo fühle ich mich gefesselt, innerlich, äußerlich? Habe ich mir selbst diese Fesseln angelegt oder andere?
Leg ab, was deine Gegenwart erstickt, erdrückt! Sorge für das, was in dir angelegt ist. Pflege es behutsam! Lass es blühen, wachsen! Werde, was du sein kannst! Manchmal ist es sehr mühsam, den Stein wegzuwälzen. Es kann arg schwer sein. Allein schaffen wir es nicht. Auch die Binden, die einschnüren und fesseln zu lösen, ist nicht einfach. Wie unfrei sind wir oft und können uns nicht selbst befreien. „Wälzt den Stein weg! Löst die Binden!“ das sagt Jesus zu den Umstehenden. Lazarus ist auf die Hilfe anderer angewiesen, dass sie den Stein wegwälzen, dass sie seine Binden lösen, dass sie ihm helfen, frei zu werden und ins Leben zu kommen. Auch wir brauchen den anderen, wir brauchen einander. Wir brauchen die Brüder, die Schwestern. Wir brauchen geistliche Gemeinschaft, geistliche Begleitung. Wir sind aufgerufen, von Jesus gerufen, einander liebevoll von manchmal zentnerschweren Steinen zu befreien, einander liebevoll aus Gebundenheiten und Fesseln zu helfen, um als „Auferweckte“ in dieser Welt zu leben.
Liebe Schwestern und Brüder!
Die Auferweckung des Lazarus ist mehr als eine Wundergeschichte. Es ist eine Glaubensgeschichte. In ihr geht es nicht darum, dass ein Toter ins Leben zurückfindet, der dann früher oder später doch wieder sterben muss. Es geht vielmehr darum, dass ich ins Leben komme. Das Geschehen hat Heilsbedeutung für uns, die Hörer des Wortes heute. Denn „Glauben“ heißt im Johannesevangelium nichts anderes als vom Tod ins Leben kommen. Aus den Gräbern, wo vorgewälzte Steine und viele Binden lebensunfähig machen, herauskommen. Herauskommen aus dem Grab der Selbstsucht und Gottferne in die Nähe Gottes, in die Freude und Freiheit der Kinder Gottes, in die Beziehung zu dem, der von Grund auf liebt und uns die Schuld vergibt, der nicht nur Liebe hat, sondern Liebe ist, dessen Wesen Liebe ist. „Stark wie der Tod“ – ja stärker als alle Tode – „ist die Liebe!“
In einem Osterlied singen wir: „Wir sind getauft auf Christi Tod und auferweckt mit ihm zu Gott.“ Und weiter: „Uns ist geschenkt sein heil`ger Geist, ein Leben, das kein Tod entreißt.“ Darum geht es, um den Glauben an dieses Geschenk: „sein heil’ger Geist“. Und an diese Wirklichkeit: „ein Leben, das kein Tod entreißt“. Wer an mich glaubt, sagt Jesus, wer auf Gott vertraut, wer auf ihn seine ganze Hoffnung setzt, muss nicht bis ans Ende der Tage auf seine Auferstehung warten. Er ist im Glauben bereits auferstanden. Und so heißt es in der Präfation beim Totengedenken: „Deinen Gläubigen wird das Leben gewandelt, nicht genommen.“ Vita mutatur, non tollitur! Für den Glaubenden ist der Tod eigentlich gar kein Tod mehr, kein Ende, sondern Wende, nicht Schlusspunkt, sondern alles verheißender Doppelpunkt. Denn das Leben, das wir in Christus jetzt schon haben und das er uns schenkt überdauert selbst den Tod. Es ist stärker als der Tod. Wer an Christus glaubt, hat (nicht wird haben, sondern hat), Anteil am göttlichen Leben. Das ewige Leben hat in ihm schon begonnen.
Als Marta einwendet: „Ich weiß, dass er auferstehen wird, bei der Auferstehung am letzten Tag“, da sagt Jesus: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben.“ Jesus korrigiert die Antwort der Marta entscheidend. Und er fügt hinzu: „Glaubst du das?“
Es war bei einem Trauerfall. Die Angehörigen hatten auf das Totenbildchen das Jesuswort drucken lassen: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben auch wenn er stirbt und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben.“ Da habe ich gefragt, warum sie das Jesuswort nicht ganz genommen haben, warum sie die Frage weggelassen haben: „Glaubst du das?“ Diese Frage ist ganz wichtig. Da wird nämlich die ganze Provokation, die in der Lazarusgeschichte steckt, deutlich.
„Glaubst du das?“ fragt Jesus auch uns. Die Antwort darauf entscheidet, ob wir österliche Menschen sind oder nicht.
Im Angesicht des Todes, im Umkreis von Grab und Verwesung, mitten in den vielen Namen und Gesichtern von Grab und Tod auch heute: glaubst du, dass Jesus das Leben ist und dass Auferstehung aus der Sinnlosigkeit und den Zwängen des Todes in seinen vielfältigen Erscheinungsformen schon jetzt möglich ist und geschieht? Diese Frage: „Glaubst du das?“ ruft in Marta ein großartiges Messiasbekenntnis hervor, das sich durchaus mit dem des Petrus messen kann: „Ja, Herr, ich glaube, dass du der Messias bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll.“
Marta gehört zu den Sterblichen, von denen Jesus sagt: „Wer mein Wort hört und an den glaubt, der mich gesandt hat, der hat (nicht er wird haben, sondern der hat) das ewige Leben. Er kommt nicht ins Gericht, sondern ist (nicht wird, sondern ist) aus dem Tod ins Leben hinübergegangen.”
Weil Christus die Auferstehung und das Leben ist, können und dürfen wir jetzt schon als österliche Menschen das Leben wagen und jetzt schon aus der Kraft der Auferstehung leben, die uns einmal – unwiderruflich – ganz erfüllen wird.
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