Eine
Frau kommt zu einem Rabbi und sagt: „Ich nehme deinen Glauben an,
wenn du mir – solange ich auf einem Bein stehen kann – sagst, was das wichtigste
in deinem Glauben ist.“
Da
sprach der Rabbi: „Höre Israel! Jahwe, unser Gott Jahwe ist einzig. Darum sollst du
den Herrn deinen Gott lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer
Kraft.“
Liebe Schwestern und Brüder!
Jesus zitiert auf die Frage nach dem wichtigsten Gebot genau die gleiche Stelle wie
der Rabbi: Deuteronomium 6, 5. Dieses Gebot ist das Herzstück des jüdischen
Glaubens. Und es ist bis heute das Kerngebet jedes frommen Juden.
Jesus
reiht sich mit seiner Antwort in die jüdische Glaubenstradition ein. Die
Gottesliebe ist auch für ihn das wichtigste und erste Gebot. Ebenso
wichtig ist Jesus zufolge aber das zweite: „Du sollst
deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“
Jesus
entnimmt auch dieses Gebot dem Alten Testament: Levitikus 19, 18.
Das zeigt: Jesus
baut auf Bestehendem auf. Er will das, was sich längst als richtig erwiesen und
als gut bewährt hat, bewahren und gleichzeitig zu neuem Leben führen.
Das
inhaltlich Neue
bei Jesus ist, dass er die beiden Gebote, das der Gottes- und das der
Nächstenliebe direkt miteinander verknüpft, sie zu einer Einheit verbindet uns
sie somit auch als gleichgewichtig nebeneinander stellt und alle anderen
Bestimmungen diesem Doppelgebot unterordnet.
Neu ist
bei Jesus auch,
dass er die Liebe zum Nächsten nicht einschränkt. Das Gebot der Nächstenliebe
kennt keine Grenzen weder der Nation noch der Religion oder sonst eine
Beschränkung. Alle Menschen sind Kinder des einen Vaters.
Alle
Gottesliebe
bleibt allerdings leer und hohl und letztlich unfruchtbar, wenn sie sich nicht
als echt erweist in der Liebe zum Nächsten und im Dienst am Nächsten. In der
Liebe zu unseren Mitmenschen offenbart und bewährt sich die Liebe zu Gott. Ja,
es ist Liebe zu Gott, wenn wir den Bruder, die Schwester lieben.
Ein Rabbi
erzählt:
Wie man einen
Menschen lieben soll, habe ich von einem Bauern gelernt. Der saß mit anderen
Bauern in einer Schenke und trank. Lange schwieg er, wie die anderen alle. Als
aber sein Herz von Wein bewegt war, sprach er seinen Nachbarn an: „Sag, liebst
du mich oder liebst du mich nicht?“ Jener antwortete: „Ich liebe dich sehr.“
Aber er sprach wieder: „Du sagst, ich liebe dich und weißt doch nicht, was mir
fehlt. Liebtest du mich in Wahrheit, du würdest es wissen.“ Der andere vermochte
kein Wort zu erwidern. Und auch der Bauer, der gefragt hatte, schwieg wieder wie
zuvor.
Ich aber
verstand: Das ist die Liebe zu den Menschen, ihr Bedürfen zu spüren und ihr Leid
zu tragen.
(Martin Buber)
Das ist
die Liebe zu den Menschen:
Ihr Bedürfen spüren, sich in die Lage des anderen hineindenken, sich in ihn
hineinversetzen, sich einfühlen, mitfühlen, mittragen, mitleiden. Spüren, was
dem anderen fehlt oder was er braucht, was ihm gut tut.
Das kommt in
einer anderen Geschichte gut zum Ausdruck:
Zwei Brüder
wohnten einst auf dem Berg Morija. Der Jüngere war verheiratet und hatte Kinder,
der Ältere war unverheiratet und allein. – Die beiden Brüder arbeiteten
zusammen, sie pflügten zusammen das Feld und streuten zusammen den Samen aus.
Zur Zeit der
Ernte brachten sie das Getreide ein und teilten die Garben in zwei gleich große
Stöße: für jeden einen Stoß Garben.
Als es
Nacht geworden war, legte sich jeder der beiden Brüder bei seinen Garben nieder,
um zu schlafen. Der Ältere aber konnte keine Ruhe finden und sprach in seinem
Herzen: Mein Bruder hat eine Familie, ich dagegen bin allein und ohne Kinder und
doch habe ich gleich viele Garben genommen wie er. Das ist nicht recht. Er stand
auf und nahm von seinen Garben und schichtete sie heimlich und leise zu den
Garben seines Bruders. Dann legte er sich wieder hin und schlief ein.
In der
gleichen Nacht nun, geraume Zeit später, erwachte der Jüngere. Auch er musste an
seinen Bruder denken und sprach in seinem Herzen: „Mein Bruder ist allein und
hat keine Kinder. Wer wird in seinen alten Tagen für ihn sorgen?“ Und er stand
auf, nahm von seinen Garben und trug sie heimlich und leise hinüber zum Stoß des
anderen.
Als es Tag
wurde, erhoben sich die beiden Brüder und jeder war erstaunt, dass die
Garbenstöße die gleichen waren wie am Abend zuvor. Aber keiner sagte darüber zum
anderen ein Wort.
In der
zweiten Nacht wartete jeder ein Weilchen bis er den anderen schlafend wähnte.
Dann erhoben sie sich und jeder nahm von seinen Garben, um sie zum Stoß des
anderen zu tragen.
Auf halbem Weg
trafen sie plötzlich aufeinander. Und jeder erkannte, wie gut es der andere mit
ihm meinte. Da ließen sie ihre Garben fallen und umarmten einander in herzlicher
und brüderlicher Liebe.
Gott im
Himmel aber schaute auf sie hernieder und sprach:
Heilig ist mir
dieser Ort. Hier will ich unter den Menschen wohnen.
Wie ganz
anders ist oft
unser Verhalten und unsere Einstellung zum anderen. Wie ganz anders oft unser
Zusammenleben und unser Umgang miteinander. Wie ganz anders denken wir oft vom
anderen.
Wenn er seine
Arbeit nicht zu Ende führt, ist er faul.
Wenn ich meine
Arbeit nicht abschließe,
bin ich zu
beschäftigt und überarbeitet.
Spricht er
über andere, ist er ein Klatschmaul.
Tue ich das
gleiche, übe ich konstruktive Kritik.
Verteidigt er
seine Sache, ist er dickköpfig.
Beharre ich
auf meinem Standpunkt,
bin ich ein
Mann von Charakter.
Redet er nicht
mit mir, ist er hochnäsig.
Rede ich nicht
mit ihm,
war ich nicht
mit den Gedanken dabei.
Ist er
freundlich, führt er was im Schilde,
bin ich
freundlich, ist das so meine nette Art.
Schade, dass
der andere mir so gar nicht ähnlich ist!
Der
Umgang miteinander,
das Gespräch, Begegnungen, das Zusammenleben erfordert viel Fingerspitzengefühl
und Einfühlungsvermögen. Wie schnell hat man einen anderen verletzt und ihm
wehgetan. Wie schnell hat man ein Bild vom anderen, ein fertiges Urteil.
Ich
meine, auf der
Suche nach dem richtigen Weg, wenn wir fragen, wie Miteinander und
gemeinschaftliches Zusammenleben gelingen und glücken kann, sollten wir nicht
vergessen, dass der biblisch-christliche Weg LIEBE heißt. Und gerade darin hat
uns Christus ein Beispiel gegeben. In seinem Leben hat er gezeigt, was Liebe
ist.
Die
Liebe, sagt
Paulus in Korinther 13, kennt kein Zuviel. Sie ist geduldig und freundlich. Sie
ist ohne Eifersucht. Liebe prahlt nicht. Liebe verletzt nicht. Liebe sucht nicht
ihren Vorteil. Böses trägt sie nicht nach. Die Liebe ist die größte Kraft.
Die
Liebe ist das
einzige, das wächst, wenn wir es verschwenden.
„Am
Abend unseres Lebens wird es die Liebe sein, nach der wir beurteilt werden“
(Roger Schutz). Allein die Liebe zählt.
Das
Gebot der Liebe
zum Nächsten hat allerdings einen Zusatz. Und der hat es in sich. Es heißt
nämlich: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“
Für mich
bedeutet das: Ich muss lernen, mich selbst anzunehmen, zu mir selbst „ja“ zu sagen. –
Sich
selbst annehmen, zu sich selbst „ja“ sagen: Vielen Menschen fällt das
schwer. Darum sind sie uneins mit sich selbst und allzu sehr in ihren Problemen
gefangen.
Wenn ich aber
begriffen habe, dass Gott mich liebt und annimmt, so wie ich bin, dann kann ich
selbst leichter „ja“ zu mir sagen.
Und dies ist
geradezu die Voraussetzung dafür, dass ich andere Menschen lieben und annehmen
kann.
Das
Gebot, „den
Nächsten zu lieben wie sich selbst“, setzt ja offensichtlich voraus, dass
ein Mensch „sich selbst liebt“.
Man darf das
nicht mit Egoismus verwechseln! Wer zu sich selbst „ja“ sagen kann, sich selbst
zu akzeptieren vermag, das ist kein Egoist. Sehr viel hat es jedoch mit
Selbstannahme zu tun. Mich selbst annehmen, so wie ich bin, mit allen Ecken und
Kanten.
Die
Erfahrung zeigt:
Wer es verlernt hat, etwas zu genießen, wird auf die Dauer selber ungenießbar.
Wer sich selbst nichts gönnt, gönnt auch anderen nichts. Wer sich selbst nicht
ausstehen kann, vermag auch nur schwer andere auszustehen.
Und umgekehrt:
Wer andere hasst und ihnen zuleide lebt, hasst meistens auch sich selbst.
Ist es
nicht so, dass
die Fehler, über die ich mich bei anderen aufrege, nur allzu oft auch bei mir
selbst vorhanden sind?
Wo mich der
andere kränkt und verletzt, stoße ich auf eigene Kränkungen und Verletzungen.
Warum reagiere
ich so heftig auf beleidigende Worte? Weil sie mich an einer schwachen Stelle
treffen. Ich bin mit mir selbst noch nicht versöhnt, wenn es nur kleiner
Nadelstiche bedarf, um mich explodieren zu lassen.
Die
Erfahrung lehrt auch:
Wer sich selbst nicht vergeben kann, wer es nicht fertig bringt, barmherzig mit
sich selbst zu sein, dem fällt es auch schwer, anderen zu verzeihen und anderen
gegenüber barmherzig zu sein.
Auf einem
Abreißkalender habe ich einmal gelesen:
„Die
Alltagsform der Liebe ist die Geduld, die Höchstform das Verzeihen.“
– Wie schwer fällt uns oft beides!
Das Verzeihen und
die Geduld haben ihren tiefsten Grund in Gott. Gott ist gut. Gott verzeiht. Er
hat unendlich viel Geduld.
Gott hat
nicht nur Liebe, Gott ist Liebe. Sein Wesen ist Liebe. Gottes Liebe ist
unermesslich, unerschöpflich, sie hört niemals auf. Und seine Liebe ist größer
als alle Schuld. Bei ihm gibt es immer einen Weg zurück. Bei ihm ist die Tür
immer offen.
Im 1.
Johannesbrief heißt es: „Wir wollen einander lieben, weil Gott uns zuerst geliebt hat.“ (4, 19)
Und den Kolossern ruft der Apostel Paulus zu: „Ihr seid von Gott geliebt!“
Und er folgert daraus: „Darum bekleidet euch mit aufrichtigem Erbarmen, mit
Güte, Demut, Milde, Geduld! Ertragt euch gegenseitig und vergebt einander, wenn
einer dem anderen etwas vorzuwerfen hat. Wie der Herr euch vergeben hat, so
vergebt auch ihr! Vor allem aber liebt einander!“ (Kol 3, 12 - 14)
Vor
einer Goldhochzeit
hatte ich mit dem Jubelpaar ein Gespräch. Dabei habe ich sie gefragt, wie sie es
fertig gebracht haben, 50 Jahre lang miteinander durchs Leben zu gehen und es
miteinander auszuhalten bis zum heutigen Tag. Es habe doch sicher auch ab und zu
Streit gegeben, Ärger, Groll, dicke Luft, vielleicht auch Krisen in ihrer Ehe.
– Da haben die beiden geantwortet: „Wissen Sie, Herr Pater, wenn wir am
Sonntag in der Kirche waren und beim „Vaterunser“ nebeneinander standen, dann
haben wir uns still und heimlich die Hand gereicht. Und bei den Worten „Vergib
uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“, da haben wir
unsere Hände fest gedrückt. Und dann war alles wieder gut. Wir haben nicht mehr
nachgetragen. Jedesmal war es ein neuer Anfang.“
Kann man das „Vaterunser“ beten und dabei die Faust in der Tasche geballt haben?
Können wir, dürfen wir – angesichts des Erbarmens Gottes – hartherzig und
unversöhnlich bleiben?
Bei
einer 12. Kreuzwegstation
zu einer Kapelle hinauf habe ich einmal gelesen: „Das
tat ich für dich. Was tust du für mich?“
Liebe
will erwidert werden. Liebe will Gegenliebe.
Gottes Liebe ruft
unsere Liebe. Sein Herz ruft unser Herz.
Jesus
sagt: „Seid
barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist!“ Und: „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe!“
Gottesliebe,
Nächstenliebe, Selbstliebe.
Jesus hat diese
drei Formen der Liebe miteinander verknüpft.
Sie gehören
zusammen, ohne dass das eine das andere ersetzt. Sie bilden eine Einheit.
Gottesliebe ohne Nächstenliebe
ist unglaubwürdig. Die Nächstenliebe ist der Prüfstein und Echtheitsbeweis für
die Gottesliebe.
Nächstenliebe ohne gesunde Selbstliebe
(im Sinne der Selbstannahme) ist nur schwer möglich. Nur wer eine positive
Einstellung zu sich selbst gefunden hat, mit sich selbst einigermaßen versöhnt
und in Einklang lebt, ist frei und offen genug für seine Mitmenschen und fähig,
„ihr Bedürfen zu spüren und ihr Leid zu tragen.“
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