Wie
soll man dieses Gleichnis nennen?
Am
bekanntesten ist es als „Gleichnis vom verlorenen
Sohn“.
Gemeint
ist der jüngere Sohn, der seinen Teil vom Erbe fordert, auszieht, das
Risiko der Freiheit wagt, in die Fremde geht, alles verprasst und
verschleudert und am Schluss ganz unten landet, bei den Schweinen, auf
unterstem Niveau, auf gut deutsch „unter aller Sau“. Tiefer geht
es für einen Juden nicht.
Doch der
Tiefpunkt ist auch der Wendepunkt. Er geht in sich, er kehrt um. Er wagt
den Weg zurück nach Hause, und – obwohl er sein ganzes Erbe
durchgebracht und auf der ganzen Linie Schiffbruch erlitten hat, findet
er – zerlumpt und total heruntergekommen – dennoch überraschend
herzliche Aufnahme. Er erfährt bedingungslose Annahme. Großzügig erhält
er Vergebung. Zumindest von seinem Vater, der nach ihm Ausschau
gehalten, der ihn nie aus seinem Herzen entlassen hat, der ihn schon von
weitem kommen sieht und ihm mit offenen Armen und verzeihender Liebe
entgegeneilt.
Denn da ist ja auch noch der
ältere Sohn,
der daheim geblieben ist, der Korrekte und Ordentliche. Kein
Problemkind, kein Sorgenkind, vielmehr ein Musterknabe, ein
Vorzeigesohn. Nie ist er ausgeschert, nie hat er über die Stränge
geschlagen. Pflichtbewusst ist er, solid, rechtschaffen, tüchtig.
Am Ende
scheint er aber doch auch irgendwie verloren zu sein.
Voll Zorn
und Neid ist er auf seinen Bruder. Er missgönnt ihm das Fest. Alles
wehrt sich in ihm, an dieser „Mega-Fete“ für diesen elenden Sünder,
diesen „Looser“, diesen Taugenichts teilzunehmen.
Voll
Groll und Trotz ist er auch gegenüber seinem Vater, für dessen Verhalten
dem Jüngeren gegenüber er kein Verständnis hat. Mit so viel Liebe kommt
er nicht zurecht. Er reagiert sauer, stocksauer. Es ärgert und erbost
ihn gewaltig, dass der Vater Gnade vor Recht walten lässt. Er sähe den
Vater lieber wie er selbst in seinem Innern ist: gerecht, gnadenlos
gerecht, hart, engstirnig und unbarmherzig.
Denn wer
nicht hören will muss fühlen. Wer nicht pariert, wird bestraft. Wer
nichts leistet, bekommt keinen Lohn. Alles hat seinen Preis.
Ist es
also „das Gleichnis von den verlorenen Söhnen“?
Aber da ist ja auch noch der
Vater,
der beiden Söhnen entgegengeht, der Vater, bei dem es immer einen Weg
zurück gibt, bei dem die Tür immer offen ist und dessen Barmherzigkeit
größer ist als alle Schuld. Der Vater, der Würde und Tradition beiseite
schiebt, wenn er dem „Schweinehirt“ entgegenläuft, ihn froh und herzlich
empfängt und ihm von Neuem das Sohn-Sein schenkt, wofür das
Festkleid steht, die Schuhe und der Siegelring.
Der
Vater, der vor lauter Freude über den Totgeglaubten das Mastkalb
schlachten und ein Fest feiern lässt.
Keine
Vorwürfe, keine Strafpredigt, keine Bedingungen. Auch keine Busse, keine
Bewährung, keine Wiedergutmachung.
Der
Vater, der aber auch um den älteren Sohn wirbt, welcher sich ungerecht
behandelt fühlt, der voll Wut, Bitterkeit und Missgunst ist. Auch zu ihm
geht er hinaus, redet ihm gut zu, versucht ihn umzustimmen, sein Herz zu
öffnen und seine enge Sicht zu weiten.
Ist es
also „das Gleichnis vom barmherzigen Vater“?
Sehr oft, wird dieses Gleichnis auch als
„Evangelium im
Evangelium“
bezeichnet, und zwar wegen des einmaligen, ja grandiosen Gottesbildes,
das Jesus in diesem Gleichnis zeichnet.
Gott ist
gut. Er verzeiht. Es gibt keine Sünde, die er nicht vergeben könnte.
Gott ist barmherzig und gnädig. Immer wieder streckt er seine Hand aus.
Immer wieder schenkt er einen neuen Anfang.
Ja,
„bei Gott herrscht größere Freude über einen
einzigen Sünder, der umkehrt, als über 99 Gerechte, die meinen, sie
bräuchten keine Umkehr“.
Ganz egal
wie wir dieses Gleichnis nennen es ist auf jeden Fall eine ganz
großartige Erzählung, schön und kostbar, eine Perle im Neuen Testament.
In
welchem Zusammenhang aber, warum und wem erzählt Jesus dieses Gleichnis?
Seine
Adressaten sind die Schriftgelehrten und Pharisäern.
Im
älteren Sohn malt Jesus ein Porträt dieser Selbstgerechten.
Es sind
jene im Volk Israel, denen die penible Beachtung der Gesetze und
Vorschriften über alles ging, jene, die sich gern über andere stellten,
sich zu Richtern erhoben, jene, die voll Stolz und Verachtung, urteilend
und verurteilend, auf andere herabschauten.
Ihnen
erzählt Jesus dieses Gleichnis, um sein Verhalten gegenüber denjenigen
zu rechtfertigen, die damals als „Sünder“ galten, um die man
einen Bogen machte, in deren Nähe man ausspuckte, zumindest seelisch.
Dass
Jesus ausgerechnet zu solchem „Gesindel“ Kontakt suchte, dass er
sich ausgerechnet den Verachteten und Gestrandeten zuwandte, sich mit
Zöllnern und Sündern sogar an einen Tisch setzte und mit ihnen zusammen
Mahl hielt, das war für sie, die sich für gerecht, für untadelig und
fromm hielten, ganz und gar unverständlich. Das war für sie ein
Ärgernis. Das erregte ihre Empörung. Daran nahmen sie aufs heftigste
Anstoß.
Wie an
vielen anderen Stellen in den Evangelien begegnet Jesus ihren Vorwürfen
und Anschuldigungen jedoch nicht mit einer Moralpredigt oder einer
Verteidigungsrede, sondern – ganz in orientalischer Manier – mit einer
Geschichte, einem Gleichnis.
Allerdings musste es auf sie geradezu schockierend wirken, in diesem
Gleichnis von einem zu hören, der unter den Schweinen, dem Inbegriff der
Unreinheit, gelebt hatte und dann von seinem Vater spontan umarmt und
geküsst wird, der ohne Vorbedingungen, ohne Sanktionen, ohne Sühne und
Buße alle Sohnesrechte zurückerhält und – statt mit einer deftigen
Standpauke – mit einem Festmahl empfangen wird.
Die
Pharisäer musste das schockieren, genauso wie den älteren Sohn, der sich
über die Güte und das Erbarmen des Vaters eben nicht freuen kann,
sondern sich gerade darum ungerecht behandelt und nicht genügend
gewürdigt fühlt.
Am
Schluss der Erzählung ist er, der Ältere, der Brave und Biedere, der
eigentlich Gefährdete, um den man bangen muss. Es ist nämlich zu
befürchten, dass er in seinem Schmollwinkel bleibt, dass er im Groll und
Trotz verharrt, dass er sich selbst vom „Fest der Freude und
Versöhnung“ ausschließt und somit selbst zum „verlorenen Sohn“
wird.
Er
distanziert sich von seinem Bruder, indem er ihn nicht „mein Bruder“
nennt, sondern „der da, dein Sohn“. Aber auch das Wort „Vater“
findet sich nicht in seinem Mund.
Hat nicht
auch er sich von seinem Vater entfernt, sich ihm entfremdet?
Braucht
nicht auch er Einsicht, Umdenken und Umkehr?
Vermag er
sich zu öffnen für den wiedergeschenkten Bruder und für die unerhörte
Liebe des Vaters?
Der
Schluss dieses Gleichnisses ist kein Happyend.
Wir
erfahren nicht, wie sich der ältere Bruder entscheidet. Wir wissen
nicht, wie er sich schlussendlich verhält.
Ob er
weiter seinen Zorn nährt und grollend und schmollend draußen bleibt?
Oder ob er sich doch noch einen Ruck gibt und über seinen Schatten
springt? Ob er es doch noch fertig bringt hineinzugehen, sich
mitzufreuen und mitfeiern?
Der
Schluss des Gleichnisses ist offen. Offen bleibt auch die Reaktion
derer, denen Jesus dieses Gleichnis erzählt. Wir sind gefragt, wir Hörer
und Hörerinnen heute.
Fest
steht: Der Vater macht keine Vorwürfe weder dem Jüngeren, noch dem
Älteren. Er wartet auf die Heimkehr beider. Er will mit allen ein Fest
feiern. So ist Gott!
Er will
auch mit uns feiern, dass wir seine Söhne und Töchter sind.
Nehme ich
die Einladung an? Feiere ich mit?
Kann ich
mich über Gottes Gnade und Erbarmen anderen gegenüber freuen?
Weiß ich,
dass ich selber immer wieder seiner Güte und seines Erbarmens bedarf?
In der
Nacht zum 26. Januar 1881 war dem russischen Schriftsteller F. M.
Dostojewski eine Lungenarterie geplatzt und ein Blutsturz eingetreten.
Nachdem Arzt und Priester gegangen waren, rief er seine Kinder und bat
seine Frau, aus der Bibel unser Gleichnis vorzulesen, das er mit
geschlossenen Augen tief in sich aufnahm.
Dann
sagte er zu seinen Kindern: „Vergesst nie, was ihr eben gehört habt!
Habt unbedingtes Vertrauen auf Gott und zweifelt niemals an seiner
Barmherzigkeit. Ich liebe euch sehr, aber meine Liebe ist nichts im
Vergleich zu der unendlichen Liebe Gottes zu allen Menschen, die er
erschaffen hat.“ Zwei Tage später starb er.
Der
barmherzige Vater, der so anders handelt als wir es uns denken, der sich
ganz anders verhält als wir es uns vorstellen, nämlich unerwartet
geduldig und gütig, wo wir schon längst Schluss gemacht hätten, voll
Liebe und Erbarmen, wo wir längst die Reißlinie gezogen hätten, er ist
und bleibt eine Herausforderung.
Denn
ähneln wir nicht mehr oder weniger dem älteren Sohn? Gleichen wir nicht
oft denjenigen, denen Jesus dieses Gleichnis erzählt?
Der
barmherzige Vater kann und will uns aber auch Vorbild und Beispiel sein,
dass wir aus seinem Geist leben und aus seiner Gesinnung heraus handeln.
„Seid
barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist!“
„Selig
die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden!“ |