„Wegen Inventur geschlossen“
– so lese ich es auf dem Zettel an der
Ladentür.
Wie ärgerlich. Ausgerechnet heute. Hätte
dringend noch etwas aus dem Schreibwarengeschäft in unserer
Nachbarschaft gebraucht. Ich drücke trotzdem mal gegen die Tür. Aber sie
ist zu. Durch die Scheibe sehe ich die Geschäftsinhaberin mit zwei
Verkäuferinnen mit Listen vor den Regalen stehen und die Bestände
überprüfen. Na klar, sage ich mir im Weitergehen, die machen Inventur,
muss sein, jetzt ist die Zeit dafür.
Am Ende des Jahres zieht die
Geschäftswelt Bilanz. Inventur ist angesagt. Und es wird geprüft, wie
erfolgreich die Geschäfte liefen, wie viel Gewinn man einstecken konnte
oder welche Verluste man hinnehmen musste.
Eigentlich brauchen nicht nur die
Geschäfte und Banken solch eine Inventur. Genauso wichtig ist Inventur
bei mir, bei uns, in meinem und unserem Leben.
Ab und zu ist es gut, das eigene Leben
mal gründlich durchzuchecken. Gibt es einen besseren Zeitpunkt dafür als
ein zu Ende gehende Jahr?
Dabei geht es nicht um eine materielle
Bestandsaufnahme von Wertsachen, Zahlen, Geldsummen oder ähnliches. Da
spielen ganz andere Dinge eine wichtige Rolle: Da ist die Zeit. Wie gehe
ich damit um? Wo habe ich meine Zeit sinnlos vertan? Wofür möchte ich
mir mehr Zeit nehmen? – Da sind die Beziehungen und Begegnungen?
Schwierige, missglückte, oder geglückte, aufbauende und schöne.
Erfahrene Wertschätzung, Geachtet sein, Angenommen sein, Güte und
Freundlichkeit, lassen uns dankbar und zufrieden auf das vergangene Jahr
zurückblicken.
Der heilige Ignatius empfiehlt für jeden
Abend auch eine Art Inventur bzw. Bestandsaufnehme. Er nennt es
„Gebet der liebenden Aufmerksamkeit“. Dieses Gebet ist ein zentrales
Element der ignatianischen Exerzitien. Für Ignatius war es „die
wichtigste Viertelstunde am Tag“.
Es handelt sich dabei um einen
Tagesrückblick. Ich schaue zurück auf das, was war, auf das, was dieser
Tag gebracht hat. Ich lasse noch einmal Erlebnisse und Ereignisse
aufsteigen und an meinem inneren Auge vorüberziehen. Ich versuche Gottes
Spuren im Alltag zu entdecken. Gott umarmt uns durch die Wirklichkeit.
Dabei kann ich manches – wie im Film – im
Zeitlupentempo anschauen, anderes auch im Zeitraffer. Ich kann auch da
oder dort mal stopp sagen, den Film anhalten, innehalten, verweilen,
nachdenken, verspüren und verkosten.
Es tut gut, den Tag am Abend oder bevor
man ins Bett geht noch einmal so in den Blick zu nehmen und ihn auf
diese Weise ausklingen zu lassen und zu verabschieden.
Begegnungen, Geschehnisse und Erfahrungen
werden noch einmal gegenwärtig. Eindrücke und Bilder ordnen sich. Ein
Stück weit dient dieses Herholen und Revue-passieren-Lassen auch dazu,
Erlebtes zu verarbeiten.
Ich versöhne mich mit manchem
Unangenehmen, Widerwärtigen, Schwerem. Ich lerne, mit Unvollendetem zu
leben, mit Misslungenen, mit Grenzen und Bruchstückhaftem.
Und ich lerne das Gute zu sehen, das
Schöne wahrzunehmen; das, was mir an diesem Tag geschenkt worden ist;
das, was mir geglückt ist und was ich vollbringen konnte, das, was froh
gemacht hat und wofür ich nur dankbar sein kann.
Was für einen Tag gilt und gut ist, das
gilt und ist gut auch für ein ganzes Jahr.
Sicher können wir nicht jeden einzelnen
Tag herholen und vor unserem inneren Auge noch mal aufsteigen lassen.
Aber wir können uns erinnern an Höhepunkte und Tiefpunkte, an
Hoch-Zeiten und Tief-Zeiten, an besondere Ereignisse, an bestimmte
Widerfahrnisse, Begebenheiten und Begegnungen.
Wir können uns erinnern an Schönes und
Frohes, an Feste und Feiern; vielleicht an einen runden Geburtstag, an
ein Jubiläum, an den Urlaub, an glückliche, frohe Stunden.
Aber es gibt da gewiss auch Trauriges,
Leidvolles, Wehtuendes.
Vielleicht eine Krankheit, Misserfolg,
Trennung, Verlust, Abschied, Angst, Ärger, Enttäuschung, Sorgen, Fehler,
Schwächen, Unversöhntes. Es gab vielleicht auch sehr schwierige und
krisenhafte Zeiten.
Sicher ist es sehr unterschiedlich, mit
welchen Gefühlen und Gedanken jeder einzelne auf das zu Ende gehende
Jahr zurückblickt. Jedem wird anderes einfallen.
Wahrscheinlich ist es für die meisten
eine Mischung von Erfreulichem und Schmerzlichem, Glück und Unglück,
Licht und Schatten.
-
War es ein schweres, hartes Jahr?
-
War es ein bewegtes und turbulentes
Jahr?
-
Welche Höhepunkte wurden mir
geschenkt?
-
Welche „Lasten“ wurden mir zugemutet?
-
Was waren die schlimmsten Stunden?
-
Was waren die traurigsten Ereignisse?
-
Welches waren die schönsten und
beglückendsten Erfahrungen?
-
Was bewegt mich jetzt noch am
meisten, wenn ich an das zu Ende gehende Jahr denke?
-
Was ist jetzt gefühlsmäßig am
stärksten da: Trauer und Enttäuschung oder Zufriedenheit und
Dankbarkeit?
-
Was habe ich für mich neu entdeckt,
neu erkannt?
Im Rückblick leuchten manchmal ganz neue
Zusammenhänge auf. Wir können unser Leben mit einem Wandteppich
vergleichen. Wenn wir mitten beim Knüpfen sind, mitten drin in den
Ereignissen, so sehen wir den Teppich von der Rückseite und können im
scheinbaren Durcheinander kein Muster erkennen. Das Gewirr der Fäden und
Knoten scheint uns sinnlos.
Aber wenn wir vor den Teppich treten,
einigen Abstand zu den Ereignissen haben, dann entdecken wir die
Zusammenhänge und erkennen das wohlgeformte Muster und vielleicht ein
schönes Bild. Und wir staunen nun darüber, wie sich jeder unserer Fäden
in dieses Bild einfügt.
Ein Mitbruder von mir, mit dem ich
einige Jahre zusammen war, sagte gern: „Gott
tut nichts als fügen!“ Und: „ Der liebe Gott macht keine Fehler.“
Von
Christian Morgenstern stammt das Wort:
„Alles fügt sich und erfüllt sich,
musst es nur erwarten können
und dem Werden deines Glückes Jahr u.
Felder reichlich gönnen.
Bis du eines Tages jenen reifen Duft
der Körner spürest
und dich aufmachst und die Ernte in
die tiefen Speicher führest.“
Wenn man von einem vom hohen Gipfel auf
ein Talgewitter herabschaut, hat man einen ganz anderen Eindruck, wie
wenn man mittendrin steckt.
Wenn wir auf unsere Leiderfahrungen im
Abstand schauen wie einer, der darüber steht, dann kann es sein, dass
wir nicht nur das Schlimme sehen, sondern auch das Gute entdecken, das
uns selbst düstere und bedrohliche Erfahrungen schenken können.
Vielleicht gibt es auch die Erfahrung, an
Schwerem gewachsen und an leidvollen Erfahrungen gereift zu sein. Wir
wären ohne diese „Feuerproben“ nicht dahin gekommen, wo wir heute
innerlich stehen.
Wenn wir Rückschau halten, tun wir gut
daran, nicht nur und nicht zuerst mit dem Rotstift an das vergangene
Jahr heranzugehen und nur das zu sehen, was nicht gut war, was schlecht,
was schlimm oder schwierig war, was misslungen ist, was mir missfällt
und wo ich unzufrieden bin, nicht nur bei den Fehlern, beim Versagen,
bei den Versäumnissen stehen zu bleiben.
Es gibt viele Menschen, deren Blick ist
so getrübt, dass sie immer eher und mehr das Negative als das Positive
sehen. Das Glas ist immer halb leer, nie halb voll. Sie sind nie
zufrieden. Sie können besser jammern und klagen als sich freuen und
dankbar sein. Sie haben eine verengte und dann auch oft eine
unbarmherzige Sicht. Sie übersehen das Gute und Schöne. Sie beachten es
gar nicht oder halten es für selbstverständlich.
Wenn wir den Rat des hl. Ignatius
befolgen, dann schauen wir die hinter uns liegende Zeit nicht nur mit
kritischen Augen an, sondern auch mit wohlwollenden. Wir gehen nicht
nur mit dem Rotstift heran, nicht nur urteilend und verurteilend,
sondern wirklich mit „liebender Aufmerksamkeit“.
Es ist gut zu entdecken und wahrzunehmen,
wofür ich dankbar sein kann. Ich meine, es gibt dafür kaum einen
geeigneteren Zeitpunkt als ein Jahr, das sich dem Ende zuneigt.
Dankbarkeit ist ein, vielleicht sogar
der Schlüssel zur Lebensfreude.
So lade ich Sie erstens
ein, Rückschau zu halten, auf das Jahr zurückzublicken, sich zu
erinnern an Ereignisse, Geschehnisse, Begegnungen. Einfach einmal kommen
lassen – zunächst ohne zu bewerten – vielleicht auch aufschreiben,
Notizen machen. Was fällt mir ein, was kommt mir in den Sinn?
Zweitens
lade ich Sie ein, eine Liste der Dankbarkeiten zu erstellen.
Wofür kann ich danken? Nichts ist
selbstverständlich. Wie viel geht uns verloren, weil wir gedankenlos,
abgestumpft, oft auch zu hastig, zu hektisch und viel zu schnell durchs
Leben gehen?
Und noch ein drittes:
Wohin mit meinem Dank?
Kann ich meinen Dank ausdrücken im
Gebet?
Dankbarkeit ist eine christliche
Grundhaltung. Danken heißt, zu Gott aufschauen, Gottes Antlitz suchen,
das Herz zu Gott erheben.
Danksagung führt zum Wandel in Gottes
Gegenwart.
Zum Schluss noch zwei sprichwörtliche
Lebensweisheiten:
1.
„Undank verschließt das Herz. Dank
öffnet es – für Gott und die Menschen.“
2.
„Das kleinste Glück ist groß genug, um
Gott dafür zu danken.“
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