Exerzitien mit P. Pius

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O Heiland reiß die Himmel auf

Es ist schon einige Jahr her, da war ich in Trier und habe Ordensschwestern Exerzitien gegeben. Bei dieser Gelegenheit habe ich mir auch die Stadt ein wenig angeschaut. Natürlich St. Matthias mit dem einzigen Apostelgrab nördlich der Alpen. Dann aber auch die berühmte Porta Nigra, Ausgrabungen aus römischer Zeit, z. B. ein sehr gut erhaltenes Amphitheater, den Dom usw.

 

Eher zufällig bin ich in die Jesuitenkirche gekommen und bin auf einmal vor dem Grab des Jesuitenpaters Friedrich Spee gestanden, das erst 1980 wieder entdeckt wurde. – Das war für mich ein sehr bewegender Moment. Denn Friedrich Spee ist für mich einer der ganz großen Gestalten der Kirche, zumindest in Deutschland. – Ich scheue mich nicht, ihn in eine Reihe zu stellen mit anderen Jesuiten wie Alfred Delp oder Rupert Mayer, die in ihrer Zeit dem Unrechtsregime der Nazis Widerstand geleistet haben. – Auch wenn Friedrich Spee nicht selig- oder heiliggesprochen wurde, was er m. E. durchaus verdient hätte, so habe ich doch großen Respekt, Hochachtung und Verehrung für ihn.

Ihm verdanken wir eine Reihe von Kirchenliedern. Die bekanntesten sind wohl „Zu Betlehem geboren“ und „O Heiland, reiß die Himmel auf.“.

 

Bevor wir uns dem Lied „O Heiland, reiß die Himmel auf“ zuwenden, ist es notwendig und gut, etwas über den historischen Hintergrund zu erfahren, in dem es entstanden ist und besonders über Friedrich Spee, von dem der Text des Liedes stammt.

 

Friedrich Spee wurde 1591 als Sohn eines hohen kurkölnischen Beamten in Kaiserswerth bei Düsseldorf geboren. In Köln besucht er das Jesuitengymnasium. Missionare erzählten begeistert von Ostasien. Friedrich Spee fängt Feuer und will Missionar in China werden. So trat er mit 19 Jahren in Trier in den Jesuitenorden ein. Seine Ausbildung erhielt er in Würzburg und schloss sie ab in Mainz, wo er gleichzeitig auch als Rhetoriklehrer wirkte und auch zum Priester geweiht wurde. Anschließend wurde er Professor für Philosophie an der Jesuitenuniversität in Paderborn, wo er aufgrund seiner Lehrmeinung mit seinem Orden in Konflikt geriet, weswegen ihm 1631 die Lehrbefugnis entzogen wurde.

 

Abgesehen davon, dass sich zur Zeit von Friedrich Spee Katholiken und Protestanten Spinnefeind waren, sich gegenseitig bekriegten und vertrieben, prägten drei weitere schlimme Ereignisse bzw. Zeitumstände das Leben von Friedrich Spee: die Pest, der 30-jährige Krieg und die Hexenverfolgung. Er floh nicht davor. Er ging nicht in die Mission. Er blieb hier und stellte sich den Herausforderungen.

 

Der 30-jährige Krieg brachte Mord und Totschlag, Brandschatzung und Plünderung. Epidemien und Hungersnöte kamen hinzu. Es wütete die Pest. Am Ende des Krieges waren ganze Landstriche ausgestorben. Gut ein Drittel der Bevölkerung Deutschlands war hinweggerafft. Tiefe Niedergeschlagenheit und Aussichtslosigkeit bemächtigte sich der Menschen. Die dritte schlimme und ganz fürchterliche Zeiterscheinung war die Hexenverfolgung.

Als Seelsorger besuchte Pater Spee die verurteilten Frauen in den Gefängnissen. Er war ihr Beichtvater und begleitete sie auf ihrem letzten Weg, dem Gang zum Scheiterhaufen. Die Ängste, die Verzweiflung und die Not dieser Frauen kannte er sehr genau. Die meisten von ihnen gaben unter grausamen Folterungen jede Anschuldigung, die ihnen vorgeworfen wurde, zu. Friedrich Spee litt sehr darunter. Die Hexenprozesse haben ihm regelrecht körperlich zugesetzt. Er hatte schlaflose Nächte. Wenn er das Feuer der Scheiterhaufen sah, hat es in seinen Augen gebrannt und ihm zuinnerst wehgetan.

 

Ein Gebet von ihm lautet: „Allermildester Jesus, wie kannst du es zulassen, dass deine Geschöpfe so grausam gepeinigt werden? Ich bitte dich, komm doch – kraft deines rosafarbenen Blutes, das aus deinem gemartertem Leib geflossen ist – allen Unschuldigen zu Hilfe!“

 

Aber Pater Spee hat nicht nur gebetet und Gottes Hilfe erfleht. Er war auch ein Mann der Tat. Und er war mutig. Als einer der ersten trat er gegen Hexenjagd und Folter auf. Schließlich entschloss er sich, eine öffentliche Anklageschrift gegen die Hexenprozesse und den Wahnsinn der Hexenverfolgungen zu schreiben.

 

1631 verfasste er die berühmte „Cautio Criminalis“ („Vorsicht im Urteil“). Darin tritt er sprachgewaltig und mit scharfem Verstand für die ein, die keine Stimme haben. Kritik übte er vor allem an der Art und Weise wie die Prozesse geführt wurden, da den Frauen, die der Hexerei angeklagt waren, Geständnisse durch Folter abgepresst wurden.

 

Das Buch erschien anonym, dazu noch in einem evangelischen Verlag. Aber es kam bald heraus, wer dahinter steckt. Dadurch kam Spee ganz arg in die Bredouille. Ja, es hätte ihn fast Kopf und Kragen gekostet. Denn er hätte selbst in die Mühle der Anklage und Folter kommen können. Jedenfalls drohte man ihm mit der Entlassung aus der Gesellschaft Jesu. Aber dann hat sein Provinzial doch schützend seine Hand über ihn gehalten, hat ihn heimlich von Paderborn nach Trier versetzt und so aus dem Schussfeld genommen. Zu den letzten Gelübden wurde er jedoch nicht zugelassen. Sein Buch hatte aber große Wirkung. Es hat ganz entscheidend dazu beigetragen, den Hexenwahn zu überwinden.

 

In Trier war Friedrich Spee als Beichtvater in Krankenhäusern und Gefängnissen tätig. Nach zwei Jahren wurde er Dozent für Exegese (Bibelwissenschaft), was eine Art Rehabilitierung darstellte.

In Trier vollendete er seine berühmte Liedersammlung „Trutz Nachtigall“, die neben seinem „Güldenen Tugendbuch“, dem ersten großen Andachtsbuch für Frauen, jedoch erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde.

In Trier widmete sich Pater Spee seelsorglich und pflegerisch auch pestkranker Soldaten. Dabei infizierte er sich selbst und starb mit nur 44 Jahren an dieser Seuche. Sein Grab befindet sind der Gruft der Jesuitenkirche in Trier.

 

Und nun zum Lied:

Friedrich Spee schrieb das Adventslied 1622 vor dem Hintergrund der soeben geschilderten Zeitumstände. Das Lied ist zuerst anonym erschienen in einer Sammlung mit anderen Liedern. Es handelte sich um einen „gesungenen Katechismus“, mit dem die Jesuiten vor allem die Jugend erreichen wollten und auch großen Erfolg hatten.

 

Unserem Lied „O Heiland reiß die Himmel auf“ war folgende Erklärung vorangestellt: „Wie sehr die heiligen Propheten und Patriarchen Christus ersehnten, was Jesaja prophezeit hat und was im Alten Testament an Figuren von ihm abgebildet war“ (Den im Original barocken umständlichen Text habe ich ein wenig gekürzt und versucht, ihn in verständliches Deutsch zu bringen).

 

In dem Lied kommt also die Sehnsucht derer zum Ausdruck, die den Messias, den Gesalbten, Christus, noch erwarteten.

Friedrich Spee damals – und wir Christen heute – wissen, dass Gott in seiner Sehnsucht – „für uns und um unseres Heiles willen“ – Mensch geworden ist, dass er in seinem Sohn, in Jesus Christus, gekommen ist, unser Leben geteilt hat von der Geburt bis zum Tod, um uns herauszuholen aus Verlorenheit und Sünde. Das feiern wir an den großen Festen, an Weihnachten, Karfreitag, Ostern. Wir bekennen Jesus Christus als unseren Erlöser und Heiland. Und doch feiern wir jedes Jahr neu Weihnachten und rufen und sehnen den Heiland, den Erlöser herbei. „Marana tha – Komm, Herr Jesus!“ Wir erwarten seine Wiederkunft in Macht und Herrlichkeit.

 

Singen wir die 1. Strophe:

O Heiland, reiß die Himmel auf,

herab, herab, vom Himmel lauf.

Reiß ab vom Himmel Tor und Tür,

reiß ab, wo Schloss und Riegel für.

 

Ist Ihnen das Ungestüme in dieser Strophe aufgefallen? Haben Sie gemerkt, wie energiegeladen das Lied daherkommt, wie da fast die Fetzen fliegen? – Dreimal haben wir das Wort „reißen“, und zwar als Befehl, als Aufforderung. Die Himmel sollen aufgerissen werden, Tor und Tür ebenso, Schloss und Riegel gar abgerissen. Das klingt fast gewalttätig, zumindest drängend. Es ist ein verzweifelt stürmisches Rufen. Gott möge handeln, er möge eingreifen. Und das nicht irgendwann einmal, sondern auf der Stelle. Es ist höchste Zeit. Übrigens, im ganzen Lied kommen 18 Imperative vor.

 

Von wegen „Jingle Bells“ oder „Süßer die Glocken nie klingen“. Das ist nichts von romantisch heimeliger Adventsstimmung, nichts von vorweihnachtlicher Glühwein-Wärme, keine Gemächlichkeit oder Gemütlichkeit, wie wir sie uns für den Advent und Weihnachten wünschen. Der Advent will ja auch mehr sein als eine beschauliche Einstimmung auf Weihnachten. Er will uns nicht besinnlich machen, sondern zur Besinnung bringen. Er will uns aufrütteln, wachmachen und zur Umkehr bewegen.

 

„O Heiland, reiß die Himmel auf! Herab, herab vom Himmel lauf!“ – Diese Zeilen unseres Liedes hat Friedrich Spee fast wörtlich dem Alten (Ersten!) Testament entnommen, wie auch noch eine Reihe anderer Bilder und Textstellen. Beim Propheten Jesaja heißt es: „Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab, …“ – Ein Hilfeschrei aus großer Not. Wie dem Volk Israel damals im Exil, in der Verbannung, so ist es vielen Menschen zurzeit on Friedrich Spee ergangen. Geht es nicht unzähligen Menschen heute noch so?

 

Wir singen die 2. Strophe:

O Gott, ein‘ Tau vom Himmel gieß,

im Tau herab, o Heiland, fließ.

Ihr Wolken, brecht und regnet aus

Den König über Jakobs Haus.

 

Diese Strophe klingt zunächst etwas zahmer. Tau, der vom Himmel gegossen werden soll. Tau erfrischt, erquickt, belebt. Das Bild kommt oft in der Bibel vor und hat auch in anderen Adventsliedern seinen Niederschlag gefunden, z. B. „Tau aus Himmelshöhn – Heil, um das wir flehen“. Oder: „Tauet, Himmel, den Gerechten“. Auch dieses Bild hat Spee dem ersten Testament entnommen. Beim Jesaja heißt es: „Tauet ihr Himmel von oben, ihr Wolken regnet ihn herab.“

 

Friedrich Spee formuliert: „Ihr Wolken brecht und regnet aus!“ Ein ganz energisches Bild. Da wird es noch mal heftig. Wie ein Wolkenbruch, wie ein prasselnder Starkregen soll es den Heiland, den Retter vom Himmel herabschwemmen. Oder umgekehrt – wie es die 3. Strophe beschreibt - aus der Erde heraustreiben.

 

3. Strophe:

O Erd, schlag aus, schlag aus o Erd,

dass Berg und Tal grün alles werd.

O Erd, herfür dies Blümlein bring,

O Heiland aus der Erde spring.

 

Von oben, von unten – es ist gleichgültig, woher der Retter kommt, wenn er nur kommt! Und Gerechtigkeit bringt und Freiheit und Frieden! Berge und Täler sollen ausschlagen, grün werden und das Blümlein hervorbringen, den ersehnten Retter, den Heiland. – Es ist eine tiefe, leidenschaftliche Sehnsucht, die sich in diesem – wie auch in anderen Adventsliedern – ausdrückt. Es ist eine Sehnsucht, ein stürmisches Verlangen, nach einer Welt, wie Gott sie gewollt hat, als er „am Anfang“ Himmel und Erde schuf.

 

Die Welt, in der wir leben, aber ist nicht so – immer noch nicht! Ukraine, Syrien, Iran, Afghanistan… Das sind Orte, an denen immer noch das Unrecht zum Himmel schreit. Unrecht und Elend, an das wir uns nicht gewöhnen dürfen, auch wenn es täglich über unsere Fernseher flimmert.

 

Wir singen die 4. Strophe:

Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt,

darauf sie all ihr Hoffnung stellt?

O Komm, ach komm vom höchsten Saal,

komm, tröst uns hier im Jammertal.

 

„Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt?“ – Nur wenige Christen haben diese Frage so leidenschaftlich gestellt wie der Dichter unseres Adventsliedes, Friedrich Spee.

 

Die Welt ist nicht in Ordnung. Das war sie zurzeit von Friedrich Spee nicht und das ist sie auch heute noch nicht. Manchmal gleicht sie einem Tollhaus. So viel Verwirrung! So viel Unsicherheit und Ausweglosigkeit! So viel Dunkel, Angst, Elend, Leid und Not!

 

Friedrich Spee nennt diese Erde ein „Jammertal“. Ist nicht manches, vielleicht sogar vieles zum Heulen?

Welche Not, welches Elend, welche Zeitumstände Spee vor Augen hat, wissen wir nicht. Es wird im Lied nicht direkt benannt. Vielleicht die Schrecken des 30-jährigen Krieges, vielleicht die Plage der Pest, vielleicht auch die Not der Frauen, die als Hexen angeklagt, oft so lange grausam gefoltert wurden, bis sie gestanden und dann auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden.

 

Vielleicht meint Friedrich Spee einfach auch „nur“ die Unerlöstheit im Alltag. Und die kennen wir wohl alle. Denn – ganz ehrlich – das Gefühl von Gerettet- und Aufgehoben-Sein in Gott, die Gewissheit seiner Gegenwart und die Geborgenheit in ihr, die begleitet und trägt uns ja auch nicht ständig. Immer wieder drängt sich der Alltag in den Vordergrund: Ärger mit Vorgesetzten und Kollegen oder Kolleginnen, Sorgen in der Familie, Streit in der Nachbarschaft. Dann die Probleme unserer Zeit, allen voran die Corona-Pandemie, die drohende Klimakatastrophe, das Thema Migration, Millionen Flüchtlinge weltweit, tausende die jährlich im Mittelmeer ertrinken. Vieles mehr ließe sich aufzählen.

 

Keine Frage: Unsere Erde ist ein Tal des Jammers. Dass wir davor die Augen nicht verschließen, dazu gibt es den Advent und die Weckrufe in den Liedern und Gebeten der Adventsliturgie.

 

Rolf Zerfaß schreibt in einer Predigt: „Er (der Advent) will, weiß Gott, mehr sein als eine beschauliche Einstimmung auf Weihnachten. Er will uns nicht besinnlich machen, sondern zur Besinnung bringen.“ Weiter sagt er: „Wir haben den Advent überhaupt nicht verstanden, solange wir ihn nicht politisch verstehen, als Einladung, den großen Horizont der Welt in den Blick zu nehmen, der Gottes Verheißung gilt.“

 

Wir singen die 5. Strophe:

O klare Sonn, du schöner Stern,

dich wollen wir anschauen gern.

O Stern geh auf, ohn deinen Schein

in Finsternis wir alle sein.

 

War die 4. Strophe geprägt vom Kontrast „höchster Saal“ – „Jammertal“, so verschärft die 5. Strophe den Kontrast noch durch den Gegensatz von „Sonne, Stern, Schein" einerseits und „in Finsternis wir alle sein“ andererseits.

 

Wie lange noch die Nacht? Wann bricht endlich der Morgen an? Die Sonne möge aufgehen. Wenn sie nicht scheint, sind und bleiben wir in der Finsternis. Mit Sonne ist Christus gemeint. In einem anderen Lied wird er „Sonne der Gerechtigkeit“ genannt. Und auch da die Bitte: „Gehe auf zu unserer Zeit.“

 

6. Strophe:

Hier leiden wir die größte Not,

vor Augen steht der ewig Tod.

Ach komm, führ uns mit starker Hand

vom Elend zu dem Vaterland.

 

In dieser Strophe bringt Friedrich Spee noch einmal die Situation hier auf dieser Welt und in diesem Leben auf den Punkt: „Hier leiden wir die größte Not.“ – Dazu kommt die Gewissheit des Todes: „Vor Augen steht der ewig Tod.“

Friedrich Spee und den Menschen seiner Zeit stand der Tod viel mehr vor Augen als uns heute. Damals sind die Menschen im Durchschnitt nur halb so alt geworden wie heute. Für uns ist der Tod oft weit weg? Wer denkt schon daran? Außerdem wird heutzutage der Tod sehr stark tabuisiert. Mitten im Leben vom Tod umfangen zu sein, dieses Bewusstsein war den Menschen früherer Zeiten viel mehr zu Eigen als uns heute.

 

Mit den Zeilen: „Ach komm, führ uns mit starker Hand vom Elend zu dem Vaterland“ bringt Friedrich Spee die Ewigkeitsperspektive in den Blick, die viele Menschen heute verloren haben. Es ist die flehentliche Bitte an der Hand genommen und dorthin geführt werden, wo das Elend ein Ende hat, wo es keine Tränen, keine Klagen und keinen Schmerz mehr gibt, nämlich bei Gott, in seinem Licht und in seinem Frieden.

Auch in dieser Strophe wieder eine große Spannung: Not, Tod einerseits – Vaterland – und das heißt Wohnung, Bleibe, Heimat – andererseits. Es ist die flehentliche Bitte an der Hand genommen und dorthin geführt zu werden, wo das Elend ein Ende hat bei Gott. Leben in seinem Leben, Leben in seinem Licht, Leben in seinem Frieden.

 

Im Gegensatz zu Friedrich Spee und seinen Zeitgenossen leben wir – zumindest hierzulande – im Frieden. Wir leben im Wohlstand. Trotzdem leben wir nicht im Paradies. Jeder kennt Sorgen, Ängste, Nöte, Elend… Und das nicht nur bei anderen. Ein Sprichwort sagt: „Unter jedem Dach ein Ach!“ – Nach vielen O-Rufen im Lied setzt Friedrich Spee in der letzten ein zweites „Ach“ – „Ach komm, für uns mit starker Hand vom Elend zu dem Vaterland.“

 

Im evangelischen Gesangbuch findet sich noch eine 7. Strophe. Sie rundet ab und stimmt mit Dank und Lobpreis versöhnlich. Diese Strophe stammt allerdings nicht von Friedrich Spee.

Sie lautet:

„Da wollen wir all danken dir,

unserm Erlöser für und für;

da wollen wir all loben dich

zu aller Zeit und ewiglich."

 

Diese Strophe rundet ab und stimmt mit Dank und Lobpreis versöhnlich. Man hat die große Spannung im Text, den offene Schluss und die unbeantworteten Fragen offensichtlich nur schwer ausgehalten. Das hat dazu geführt, dass das Lied im Laufe der Zeit Glättungen und Hinzufügungen erfahren hat, Veränderungen, die die Radikalität des Originaltextes abmildern sollten. So gab es eine Version im 19. Jahrhundert, in der es in der ersten Strophe hieß: „O Heiland tu den Himmel auf“. Statt „reiß“ – „tu“!

Anderswo wurde aus dem „Jammertal“ ein „Erdental“.

Diese zusätzliche Strophe rundet ab und stimmt mit Dank und Lobpreis versöhnlich. Ehrlich gesagt: Mir ist die offene Originalversion mit sechs Strophen nicht nur vertrauter – weil sie authentischer ist, darum ist sie mir auch lieber.

 

Friedrich Spee kannte die hebräische Bibel, das erste Testament. Viele Bilder sind daraus entnommen, besonders dem Propheten Jesaja. Spee hat die Worte des Propheten allerdings frei übertragen, sie neutestamentlich überformt und direkt auf Jesus Christus bezogen, den Heiland und Erlöser.

Friedrich Spee kannte aber auch die Liturgie, z.B. die sieben O – Antiphonen – O-Rufe, die auch heute noch vom 17. bis zum 23. Dezember als Antiphonen das Magnifikat im Abendlob der Kirche (Vesper) umrahmen. Alle drei ersten Strophen beginnen mit O. Sechs weitere O sind im Lied enthalten.

 

Das Lied von Friedrich Spee ist 400 Jahre alt. Aber es hat nichts an Aktualität eingebüßt. Angesichts einer Pandemie, die wir trotz aller Anstrengung und vielen Mitteln nicht recht in den Griff kriegen, angesichts von Krieg und Terror, Hunger und Armut, millionenfachem Flüchtlingselend und schrecklichen Naturkatastrophen können wir uns dieses Lied ohne weiteres zu eigen machen und – wie Jesaja und Friedrich Spee – uns nicht scheuen, Gott in den Ohren zu liegen.

Denn je bedrängender das Leben, je zerbrechlicher und verwundeter die Welt, umso schreiender ist unsere Sehnsucht nach Heil. Die Sehnsucht, dass sich Gott mitten in der verstörenden Realität zeigen möge und nahe ist – rettend, tröstend, leidenschaftlich.

Dass Gott wirklich den Himmel zerreißt, um unser – aus den Fugen – geratenes Leben zu teilen und zu umfangen, das ist die unerhörte Zusage des Advents.

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