Der heilige Martin gehört zu den bekanntesten
Persönlichkeiten des christlichen Abendlandes und zu den großen Heiligen
der Kirchengeschichte. Er wird nicht nur in der katholischen Kirche,
sondern auch in der orthodoxen,
anglikanischen und evangelischen Kirche
verehrt.
Von 371 bis 397 war Martin Bischof von
Tours in Frankreich.
Martinsumzüge,
Martinsfeuer, Martinsgänse, Martinslieder, Martinimärkte usw. Die
Bräuche (z. T. auch Folklore), die sich um den heiligen Martin und den
Martinstag am 11. November ranken, sind fast unzählig. Sie zeigen auf je
eigene Weise die große Popularität dieses Heiligen.
Kein Kindergarten, der nicht eine
Martinsfeier veranstaltet. Kaum ein Kind hierzulande, das nicht den heiligen
Martin kennt und um seine spontane Liebesstat am frierenden Bettler
weiß. Selbst in einer oftmals unreligiösen und entchristlichten Umgebung
rührt dieses Werk der Barmherzigkeit noch die Herzen an.
„Im Schnee da saß ein armer
Mann, hat Kleider nicht, hat Lumpen an“,
singen die Kinder, wenn sie mit ihren Laternen durch die abendlichen
Straßen ziehen. Und dann wird mit Pferd und Reiter und Bettler die Szene
der Mantelteilung im Spiel lebendig, jenes Beispiel christlicher Liebe,
die den heiligen Martin zu einem der volkstümlichsten abendländischen
Heiligen werden ließ. „St. Martin war ein guter
Mann.“
Martin
lebt in den Herzen der Menschen fort. Viele tragen seinen Namen: Martin
und Martina. Dome, Kirchen und Kapellen sind ihm geweiht, Straße und
Plätze tragen seinen Namen, besonders in Frankreich. Unsere
Nachbardiözesen Rottenburg und Mainz verehren ihn als ihren
Diözesanpatron.
2016 haben wir seinen 1700ten Geburtstag
gefeiert. Auf vielen Kirchenfenstern und Bildern ist er dargestellt,
meistens jene Szene wie er mit seinem Schwert seinen Soldatenmantel
teilt und die Hälfte einem frierenden Bettler reicht, ein Werk der
Barmherzigkeit, mit Symbolkraft für jede opferbereite Liebe.
Weniges in der Geschichte der
abendländischen Heiligenverehrung hat sich so ins Gedächtnis der
Menschen eingeprägt und eine so dauerhafte Spur hinterlassen wie diese
Begegnung an einem Winterabend am Stadttor von Amiens. – Ein Beispiel
echter Solidarität, praktizierte Liebe, Barmherzigkeit konkret.
Aber warum
hat Martin nicht den ganzen Mantel dem Bettler geschenkt? Ganz einfach: Er
hätte sich strafbar gemacht.
Ein römischer Offizier seiner Zeit musste
seinen Mantel zur Hälfte aus eigener Tasche bezahlen. Nur über diesen
Teil konnte Martin selbst verfügen. Die andere Hälfte war sozusagen
Staatseigentum.
Trotzdem oder gerade auch
deswegen: Die Umstehenden lachten über Martin,
weil er in seinem halben Mantel komisch aussah. Einige aber waren
beschämt, weil sie auch hätten helfen können, es aber nicht getan haben.
Entscheidend
aber – heute allerdings oft vergessen und auch bei Martinszügen meistens
außeracht gelassen – ist die religiöse Deutung dieses Geschehens.
Die Lebensbeschreibung des heiligen Martin
berichtet nämlich, dass Martin in der folgenden Nacht eine Vision hatte.
Im Traum sieht er Jesus Christus,
bekleidet mit der Mantelhälfte des Bettlers. Und er hört, wie Jesus zu
den Engeln, die ihn umgeben, sagt: „Martin, obwohl erst Katechumene
(also noch nicht getauft, Taufanwärter) hat mich mit diesem Mantel
bekleidet.“
Da erkennt Martin:
der Bedürftige am Wegrand war Jesus selbst. IHM ist er in der
Winterkälte begegnet. Er selbst, Christus, identifiziert sich mit den
Geringsten seiner Brüder und Schwestern.
Für Martin
scheint die Begegnung mit dem Bettler ein „Aha-Erlebnis“ gewesen
zu sein wie für Franz von Assisi die Begegnung mit dem Aussätzigen. Auge
in Auge mit den Elendsgestalten begreifen beide vielleicht zum ersten
Mal, dass Christsein riskant ist und dass Liebe etwas kostet.
Die Szene mit dem Bettler
ist für Martin gleichsam der Kristallisationspunkt
vieler ähnlicher Liebestaten, die aus seinem Leben überliefert sind.
Sein erster Biograph Sulpicius Severus
schreibt:
„Er half Armen, speiste die
Hungernden, kleidete die Nackten und vergaß darüber sich selbst.“
Martin
hat Ernst gemacht mit der christlichen Wahrheit, dass Christus uns in
jedem Mitmenschen, in jedem Hilfsbedürftigen begegnen will: „Was ihr
für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“
(Mt 25, 40).
Was wissen wir sonst noch vom
heiligen Martin?
Sein Leben lässt sich nicht auf die
Mantelteilung reduzieren. Es ist viel reicher und umfassender. Martin
kann uns noch in mancherlei anderer Hinsicht Vorbild und Leitbild sein.
Martin
wurde 316 als Sohn heidnischer Eltern in Sabaria geboren, einer
römischen Stadt im heutigen Ungarn. Dort war sein Vater Berufssoldat im
Rang eines Offiziers. Bald schon wurde er allerdings nach Pavia in
Oberitalien versetzt. Dort ist Martin in einer überwiegend heidnischen
Umgebung aufgewachsen, kam allerdings auch mit dem Christentum und der
Kirche in Berührung. (313: Mailänder Toleranzedikt!)
Als Zehnjähriger
wollte Martin schon Katechumene werden, Taufbewerber, aber sein
heidnischer Vater war strikt dagegen. Mit zwölf Jahren meldete er sich
dann doch – gegen den Willen seiner Eltern – zum Taufunterricht an.
Als auf Grund eines kaiserlichen Dekrets
alle Söhne von Offizieren zum Militärdienst eingezogen wurden,
musste auch Martin, inzwischen 15 Jahre alt, den Fahneneid auf den
Kaiser ablegen. Er wurde in die kaiserliche Garde aufgenommen, woraus
sich schließen lässt, dass er von stattlicher Gestalt war und eine
robuste Gesundheit hatte. Als Gardesoldat stand ihm ein Pferd und ein
Leibsklave zur Verfügung.
Martin
war fast drei Jahre Soldat, bevor er getauft wurde.
In dieser Zeit erwies er sich als
glaubwürdiger Taufanwärter, der durch seine ganze Lebensführung
überzeugte: Er half den Kranken und Bedrückten, unterstützte die Armen
und teilte Nahrung und Kleidung mit ihnen. Von seinem Sold behielt er
nur so viel für sich, wie er unbedingt brauchte.
Seine raubeinigen Kameraden in der Armee
schockte er mit einer merkwürdigen Lust am Rollentausch, indem er z. B.
seinem Stallburschen die Stiefel putzte und seinen Leibsklaven beim
Essen bediente. Verrückt! Er stellte die Welt der Herren und Knechte,
der Eroberer und Sklaven auf den Kopf. Martin hatte Mut, sich quer zu
legen. Durch sein Verhalten und seinen alternativen Lebensstil
provozierte er.
Martin
war bestrebt, aus dem Geist des Evangeliums zu leben. Die Mantelteilung
erscheint einerseits wie eine Frucht dieser evangeliumsgemäßen Gesinnung
und Einstellung.
Andererseits führte Martin in seinem
ganzen Leben weiter, was er mit der Mantelteilung begonnen hatte.
Eine andere Begebenheit
aus seinem Leben ist ebenfalls interessant und bemerkenswert:
Es war im Jahr 356. Germanische Stämme
waren in das Römische Reich eingedrungen, hatten den Rhein überschritten
und waren nach Gallien eingefallen.
Kaiser Julian stellte ihnen bei Worms
seine Truppen entgegen. Am Vorabend der Schlacht versammelte er seine
Männer. Wie es damals üblich war, verteilte er Geld an seine Soldaten,
ermahnte sie zur Tapferkeit und nahm namentlich die Offiziere, darunter
auch Martin, in Pflicht. Dabei wurde jeder einzeln mit Namen aufgerufen.
Für Martin
war dies eine günstige Gelegenheit, Stunde der Entscheidung, zu tun, was
er wohl schon längere Zeit vorhatte. Er fasste die Chance beim Schopf
und bat den Kaiser um Entlassung aus dem Militär- und Kriegsdienst.
Er erklärte Julian:
„Bis heute habe ich dir gedient. Erlaube mir, dass ich ab
jetzt Gott diene. Deine Gabe (das Geld) sollen diejenigen nehmen, die
kämpfen wollen. Ich bin Soldat Christi. Es ist mir nicht erlaubt zu
kämpfen (zu töten).“
Wutentbrannt bekam er zur Antwort:
„Aus Angst vor der Schlacht verweigerst du den Dienst, nicht wegen
deines Glaubens.“ Martin aber erwiderte mutig:
„Wenn du glaubst, ich sei feige, will ich mich morgen
unbewaffnet vor der Schlachtreihe aufstellen und will im Namen Jesu
Christi, mit dem Zeichen des Kreuzes, ohne Schild und Helm, furchtlos in
die Reihen der Feinde eindringen.“
Julian nahm ihn beim Wort. Er ließ den
frechen Kerl festnehmen und bis zum Aufmarsch und ins Gefängnis werfen.
Am nächsten Morgen jedoch schickten die Germanen Gesandte und baten um
Frieden. Die Schlacht fand nicht statt. Und Martin kam wieder frei. Er
quittierte den Militärdienst und verließ die Armee.
Nach allem, was bekannt ist, muss es
Martin schon damals zu einem geistlichen-kontemplativen Leben
als Einsiedler gedrängt haben.
Er ging nach Poitier in Frankreich zum
berühmten Bischof und Theologen Hilarius. Von ihm empfing er die Taufe.
Danach zog es ihn als Missionar in seine
ungarische Heimat. Seine Eltern waren wieder dorthin zurückgekehrt. Zur
großen Freude Martins bekehrte sich seine noch heidnische Mutter zum
christlichen Glauben und ließ sich taufen. Bei seinem Vater war sein
Bemühen vergeblich.
Martin
begegnete in dieser Zeit auch der Irrlehre des Arius. Diese Irrlehre,
Arianismus genannt, leugnete die Gottheit Jesu. Sie war zwar auf dem
Konzil von Nicäa verurteilt worden, war aber damit noch längst nicht aus
den Köpfen und aus den Herzen vieler Menschen verschwunden. Der Streit
beschäftigte damals nicht nur Theologen, sondern brachte auch weite
Teile der Bevölkerung gegeneinander auf. Selbst Bischöfe hingen dieser
Irrlehre an und vertraten sie teilweise sehr aggressiv. Martin stellte
sich leidenschaftlich dagegen. Schließlich wurde er vertrieben, des
Landes verwiesen.
Nun machte er sich - von manchen Wundern
und Abenteuern begleitet - auf den Weg nach Westen. Nach einem
Aufenthalt in Mailand zog er sich als Eremit mehrere Jahre auf eine
Insel bei Genua zurück. Dieses Einsiedlerleben gab er aber auf Bitten
von Bischof Hilarius schließlich wieder auf und kehrte zurück nach
Poitiers.
Hilarius
hätte Martin gern zum Diakon und Priester geweiht. Doch Martin strebte
nicht nach Amt und Würden. Er wollte Mönch bleiben. Aber Hilarius
drängte und überredete ihn.
Schon bald bezog er in Liguge, südlich
von Poitiers, eine Einsiedelei. Er blieb dort nicht lange allein.
So stark war sein Charisma und seine Ausstrahlung, dass sich viele
Schüler zu ihm gesellten. So entstand aus der Einsiedelei eine
Einsiedlerkolonie und daraus das älteste bekannte Kloster in Europa.
Martins Vorbild
und das seiner Gefährten waren die orientalischen Wüstenväter. Der
Unterschied: Martin ging nicht in die Wüste, er suchte nicht die
absolute Zivilisationsferne, sondern blieb in der Nachbarschaft der
größeren Städte. Er verband Meditation mit Aktion, Kontemplation mit
seelsorglichem Engagement, Mystik mit öffentlichem Handeln.
Nahezu
zwei Jahrhunderte vor Benedikt von Nursia (gestorben 547), der als
„Vater des abendländischen Mönchtums“ gilt, darf man mit Fug und
Recht in Martin den „Erstbegründer“ des abendländischen Mönchtums
sehen, den Gründervater sozusagen, der den Grundstein gelegt hat.
Martin
wurde bald wegen seiner Frömmigkeit und Bescheidenheit, wegen seiner
tätigen Hilfe für Notleidende, aber auch wegen seiner Geradlinigkeit
bekannt. Die Menschen schätzten ihn sehr. Manchen Bischöfen und
Geistlichen war und blieb er aber auch suspekt.
Als der Bischof von Tours starb,
wünschten sich das gläubige Volk und ein großer Teil des Klerus Martin
als Nachfolger. Doch Martin wollte nicht. Er lehnte ab. Karrieredenken,
Streben nach Macht und Ruhm kannte er nicht.
Zuvor hatte er es bereits abgelehnt,
Nachfolger von Bischof Hilarius zu werden.
Unter dem Vorwand, es gelte in Tours eine
schwerkranke Frau zu heilen, lockte man Martin doch in die Stadt, wo
ihn die Leute spontan und im Grunde gegen seinen Willen durch
Akklamation zum Bischof wählten. Das war im Jahr 371.
Die Legende berichtet, Gänse hätten ihn
durch ihr Schnattern verraten.
Auch als Bischof
behielt Martin das Mönchsideal und einen einfachen Lebensstil bei, womit
er aber auch bei einem Teil des Klerus auf Widerstand stieß, denn die
Kirche war dabei, sich mit dem Staat zu arrangieren. Die Bischöfe und
Priester hatten sich daran gewöhnt, den staatlichen Beamten
gleichgestellt zu sein. Die Kirche fing an, Besitz zu haben und so
mancher Kirchenmann machte sich ein bequemes Leben. Da hat es Anstoß
erregt, wenn Martin selbst seine Schuhe putzte, auf den festlichen
Bischofssitz verzichtete und statt dessen einen einfachen Hocker
benutzte oder seinen Mönchen verbot, auch nur die geringsten Geschenke
anzunehmen.
Zunächst
versuchte Martin auch als Bischof, seine ärmliche, mönchische
Lebensweise in einer Zelle zu verwirklichen, die an die Bischofskirche
angebaut war. Doch der große Zustrom von Ratsuchenden und
Verzweifelten veranlasste ihn, Ruhe und Einsamkeit in einer verlassenen
Waldgegend außerhalb der Stadt zu suchen.
Auch hier
sammelten sich wieder Gleichgesinnte um ihn. Wiederum bildet sich eine
Mönchsgemeinschaft. Aus der ursprünglichen Einsiedelei entstand wieder
ein Kloster, Marmoutier, in dem etwa 80 Ordensbrüder lebten.
Von Martin wird berichtet,
dass er jede Gelegenheit zum Gebet nutzte oder um über die Heilige
Schrift zu meditieren. Auch wenn er mit etwas anderem beschäftigt war,
soll er nicht aufgehört haben zu beten. Er war bestrebt, stets in der
Gegenwart Gottes zu leben.
Eine ungeheure Ausstrahlung ging von
Martin aus und faszinierte immer neu und immer mehr die Menschen seiner
Umgebung.
Als Bischof
war Martin unermüdlich in seiner Diözese und darüber hinaus unterwegs.
Er widmete sich mit großem Eifer der Ausbildung des Klerus und besonders
der Evangelisierung, der Verkündigung des Glaubens.
Die Bekehrung der heidnischen
Landbevölkerung war ihm ein großes Anliegen. Dafür scheute er keine
Mühen und nahm viele Strapazen auf sich.
Damals
hatte das Christentum hauptsächlich erst in den größeren Städten Fuß
gefasst und begann sich zunächst dort auszubreiten. Deshalb gilt der heilige
Martin auch als Apostel der „Campane“, der Dörfer und Gemeinden auf dem
flachen Land.
Auf einer seiner Reisen
kam Martin auch nach Paris, das damals eine Kleinstadt war. Als er durch
das Tor einzog, küsste und segnete er zum Entsetzen aller einen
Aussätzigen, der einen ganz ärmlichen Anblick bot. Das war noch mehr als
die Mantelteilung. Denn er riskierte Ansteckung und Tod.
Martin
wurde als Bischof auch in innerkirchliche und politische
Auseinandersetzungen seiner Zeit verwickelt. Dabei erfuhr er, wie es gar
nicht immer einfach ist, das Richtige zu tun.
Es ging erneut um die Irrlehre des
Arianismus. Die Arianer leugneten die Gottheit Jesu und glaubten nicht
an die Dreifaltigkeit Gottes.
„Ultrarechte“ Bischöfe
erreichten im Jahr 385 ein Todesurteil über einige häretische Bischöfe
in Spanien, unter ihnen Priszillian, der viele Anhänger hatte, die
sogenannten Priszillianer.
Martin
war gegen die Todesstrafe. Sie war für ihn weder mit dem fünften Gebot
„Du sollst nicht töten“ noch mit dem Gebot der Nächstenliebe
vereinbar.
Martin
versuchte zu intervenieren und begab sich zum römischen Kaiser nach
Trier, um das Leben der Glaubensabweichler zu retten. Mehrfach legte er
Fürsprache für die irrenden Glaubensbrüder ein.
Als Martin
keinen anderen Ausweg sah, feierte er zusammen mit der Gruppe der
„Hetzer und Ketzer“ sogar die Eucharistie, um durch diese
entgegenkommende Geste ihre Begnadigung zu erreichen. Sein Einsatz war
allerdings vergeblich. Dafür geriet er selbst in Verdacht, ein Ketzer zu
sein.
Folgende Begebenheit
wirft auch noch ein bezeichnendes Licht auf Martin: Als er einmal zu
Gast am Tisch des Kaisers war, reichte ihm dieser den Trinkpokal. Martin
aber gab ihn nicht, wie es sich gehörte, dem Kaiser zurück, sondern
reichte ihn zuvor seinem ihn begleitenden Priester. Im geweihten
Priester ehrte er den Hohenpriester Christus.
Martin
starb 80jährig auf einer Seelsorgereise, die er unternommen hatte, um in
der Gemeinde Candes einen Streit zwischen Geistlichen zu schlichten.
Obwohl er wusste, dass er nicht mehr lange leben würde, nahm er die
anstrengende Reise auf sich. Einer Pfarrei den Frieden wiederzugeben,
betrachtete Martin als die Krönung seines irdischen Wirkens.
Als Martin seine Friedensmission in
Candes beendet hatte, wollte er in sein Kloster zurückkehren. Doch nun
verließen ihn die Kräfte. Er rief die Brüder zusammen und sagte ihnen,
dass er bald sterben werde. Da wurden sie von Trauer überwältigt und
fragten: „Vater Martin, warum willst du uns verlassen? Auf wen sollen
wir hören, wenn du von uns gegangen bist?“ – Martin ließ sich von
ihrem Schmerz anrühren und betete: „Herr, wenn
dein Volk mich noch braucht, dann will ich mich der Mühsal nicht
verweigern. Dein Wille geschehe!“
Auch darin zeigte sich die Größe des
heiligen Martin:
Er fürchtete sich nicht zu sterben und
war doch bereit zu leben, solange es Gott gefiel.
Martin
starb am 8. November 397. Sein Leichnam wurde auf der Loire nach Tours
gebracht, wo er drei Tage später, am 11. November, in seiner
Bischofsstadt, begraben wurde.
König Clodwig I.
erklärte Martin zum Schutzherrn der fränkischen Könige und ihres Volkes.
Die Reliquien wurden größtenteils im 16. Jahrhundert. von Hugenotten
zerstört. Reste sind in der um 1900 neugebauten Martinskirche von Tours
aufbewahrt. Sein Mantel galt als fränkische Reichsreliquie und wurde bei
allen Feldzügen mitgeführt.
Seit seinem Tod
pilgerten die Gläubigen zu seinem Grab. Bis ins späte Mittelalter war
Tours – nach Rom – der meist besuchte Wallfahrtsort, noch vor Santiago
de Compostela.
Später
zogen viele der Jakobspilger, die von Antwerpen, Brügge, Köln und Aachen
nach Santiago aufbrachen, über Tour in das ferne Galizien, um mit dem
Segen des heiligen Martin diese lange und schwere Reise zu bestehen.
Die „Via Turonensis“,
der Weg über Tour und Poiters hin zu den Pyrenäen wurde für die
Jakobspilger zu einem der vier Hauptwege durch Frankreich – und ist es
noch heute.
Interessant ist,
dass es heute quer durch Europa auch eine Reihe Martinswege gibt, die
zum Jubiläumsjahr 2016 ausgebaut und fertig gestellt wurden.
Eine Südroute verläuft von Ungarn über
Slowenien, Kroatien und Italien Richtung Frankreich nach Tours.
Eine mittlere Strecke geht von Ungarn
über Österreich, Deutschland, Luxemburg und Belgien nach Frankreich und
verbindet einerseits Kirchen und Einrichtungen, deren Patron Martin ist,
und vernetzt andererseits Städte wie z. B. Worms und Trier, an denen der
Heilige zu Lebzeiten gewirkt hat.
Eine nördliche Route über Erfurt und Köln
ist angedacht. Schmale gelbe Kreuze auf einem dunklen Hintergrund dienen
als Wegweiser.
Entlang der Martinswege ist außerdem ein
Netzwerk von Einrichtungen der Caritas entstanden, die als „Orte des
Teilens“ ein Hilfsnetzwerk bilden.
Übrigens,
der volkstümliche Brauch der Martinsgans, die man vielerorts zum
Martinsfest verzehrt, basiert auf dem Martinstag als Hauptpacht- und
-zinstag: Am Martinstag begann das neue Wirtschaftsjahr der Bauern. An
das Gesinde wurden die Löhne bezahlt, Pachtverträge wurden geschlossen,
Steuern abgeführt. Knechte und Mägde konnten, wie an Lichtmess, den
Dienstherrn wechseln.
Zu Martini
wurde das Vieh geschlachtet, das aus Kostengründen nicht den ganzen
Winter hindurch gefüttert werden konnte. Dazu gehörten die Gänse. So
ergab sich der Brauch, am Martinstag Gänsebraten zu essen. Die Gans war
eine bevorzugte Zinsabgabe an den Grundherrn. Tribute wurden oft in Form
von Naturalien bezahlt, z. B. Gänse, Fische usw. …
Nach dem Martinstag
begann die 40-tägige Fastenzeit vor Weihnachten („Martinsquadragese“).
Also wurde noch mal ordentlich hingelangt und ausgelassen gefeiert – wie
noch heute an Fasnacht, den Tagen vor dem Aschermittwoch
Noch etwas:
Martin ist der erste Nichtmärtyrer, der als Heiliger verehrt wurde.
Sich an den heiligen Martin erinnern
und seiner zu gedenken, das heißt: sich
berühren und durchdringen lassen vom Geist, der diesen Mann beseelte. Es
ist der Geist der Liebe und Barmherzigkeit, der Geist der Demut und
Hingabe. Und es ist der Geist der Gottsuche und des Gebetes.
Und so rufen wir zu Martin:
Komm wieder! Komm wieder in Menschen, die
gesinnt sind wie du, die handeln wie du, die gut sind wie du, die leben
wie du. Komm wieder! Und wir fügen zögernd hinzu: in uns!
Sporne uns an, ganz wach, ganz bewusst
und ebenso entschieden christlich zu leben – wie du!
Deutung und Aktualisierung:
Erstens:
Fremde Not wahrnehmen, mitfühlen, teilen.
Papst Johannes Paul II. besuchte
1969 Frankreich. Er reiste auch nach Tours. In der Martinsbasilika traf
er sich mit Armen und Kranken. Damals sagte der polnische Papst, was
auch Papst Franziskus immer wieder bekräftigt:
„Der Zustand einer Gesellschaft zeigt sich daran, wie sie
mit dem vom Leben Verwundeten umgeht und welche Haltung sie ihnen
gegenüber einnimmt.“
Jeden Tag begegnen wir Menschen. Meistens
nehmen wir sie nur flüchtig wahr. Manchmal aber sehen wir mehr in ihnen.
Ein Blick trifft ins Herz, ein Wort bleibt hängen, eine Geste weckt
Mitgefühl. Begegnungen können das Leben verändern.
Martin hatte wache Sinne, ein offenes
Herz und helfende Hände. Als Taufanwärter, teilte er seinen Mantel,
Armen half er, Kranke heilte er, Bedrückte richtete er auf und Trauernde
tröstete er. – Christus tritt auch uns in den Weg, unscheinbar und
alltäglich, in den Menschen, mit denen wir leben.
Wäre nicht besonders das Teilen –
übertragen und umgesetzt ins Heute – die Antwort und die Lösung vieler
Probleme auch in unserer Zeit, im Großen und im Kleinen?
Wobei die Hungernden nicht nur jene sind,
die ihre Hand nach einem Stück Brot ausstrecken, sondern auch jene, die
hungern nach Liebe und Angenommensein.
Und die Nackten sind nicht nur jene, die
nichts zum Anziehen haben, sondern auch diejenigen, die aller
menschlichen Würde entkleidet sind.
Einsam und obdachlos sind nicht nur jene,
die kein Dach über dem Kopf haben, sondern auch all jene, denen die
Obhut menschlicher Wärme und Zuneigung fehlt.
Nicht nur reden über Solidarität, sondern
Tun der Solidarität.
Zweitens:
Auf die innere Stimme hören, meinem Gewissen
folgen, dem Willen Gottes Vorfahrt geben
Martin war Soldat, Offizier. Er gehörte
zur kaiserlichen Garde, einer Eliteeinheit. Doch schon sehr früh und
mehr und mehr sah er seine Berufung im geistlichen Leben. Er wollte
Mönch werden. Außerdem brachte er es mit seinem Christsein nicht mehr in
Einklang in den Kampf zu ziehen. Martin hörte auf seine innere Stimme
und folgte seinem Gewissen. Er verabschiedete sich vom Militärdienst.
Die meisten Menschen leben unter
Bedingungen, die sie nicht selbst gewählt haben. Viele haben sich ein
anderes Leben gewünscht. Andere sehen sich gezwungen zu tun, was ihr
Gewissen belastet. Mit Konflikte und Spannungen zu leben, bleibt
niemandem erspart.
Suche ich in den Schwierigkeiten und
Wechselfällen des Lebens den Willen und die Führung Gottes?
Wie verhalte ich mich in
Entscheidungssituationen?
Höre ich auf das, was mein Herz mir sagt?
Folge ich der Stimme meines Gewissens?
Drittens:
Jesu Weg der Demut und Hingabe mitgehen
Martin hat sich nie um Macht, Ämter,
Einfluss und Karriere gekümmert. Als Bischof Hilarius ihn zum Priester
weihen wollte, zog er sich als Eremitenmönch in die Einsamkeit mit Gott
zurück. Als die Bürger von Tours ihn zum Bischof machen wollten, floh er
die Versammlung und verbarg sich der Legende nach in einem Gänsestall,
wobei jedoch die Gänse durch ihr Schnattern sein Versteckt verrieten.
Es kommt gar nicht darauf an, dass ich
oben bin, viel Einfluss habe, die erste Geige spiele, den Ton angebe.
Auf eines kommt es an, dass ich ein
Liebender bin und es immer mehr werde. „Am Ende unseres Lebens wird
es die Liebe sein, nach der wir gefragt werden“ (Regel von Taize)
Jesus nachfolgen, mit meinem Leben der
Spur des Evangeliums folgen, das heißt immer wieder neu den Weg Jesu und
den Weg mit Jesus zu gehen, den Weg der Demut und Hingabe, den Weg der
Solidarität, der Liebe und Barmherzigkeit.
Viertens:
Verbundenheit mit Gott und Zugewandtheit zu den
Menschen, Aktion und Kontemplation
Martin war schon als Taufanwärter, ebenso
als Soldat, dann auch als Einsiedler und schließlich als Priester und
Bischof ein zutiefst spiritueller Mensch. Er lebte im Herzen demütig und
äußerlich schlicht. Er liebte die Stille, das Alleinsein mit Gott, die
Gebetseinsamkeit.
Er verstand es, Arbeit und Gebet
miteinander zu verbinden.
Er lebte Gott nah und den Menschen nah,
sowohl gottverbunden als auch den Menschen zugewandt.
Je aktiver und engagierter jemand lebt,
desto sorgsamer und intensiver gilt es, den inneren Quellen Sorge zu
tragen.
Wer nur für die Arbeit lebt, wird
erdrückt von Verantwortung und Sorge. Um ganz Mensch zu sein, brauchen
wir auch Abstand und Ausgleich, Besinnung und Gebet. Beten kann man
immer, selbst während der Arbeit und ohne Worte. Betende Menschen sind
dankbar, freuen sich an Gottes Größe, tragen die Not der Welt vor Gott
und bitten um Kraft und Führung. Wer so betet, kann sich den Aufgaben
des Lebens stellen und weiß zugleich, dass das Gelingen in Gottes Hand
liegt.
Welchen Stellenwert hat in meinem Leben
das Gebet, die Stille, die Schriftlesung, die Meditation?
Suche ich gern und oft die Nähe Gottes im
Gebet?
Oder kommt dieser Aspekt im
Alltagseinerlei und in der hektischen Betriebsamkeit eher zu kurz? Wird
daran nicht am schnellsten gekürzt und gestrichen? Und ist aufgeschoben
nicht doch oft aufgehoben?
Wie gelingt es mir, Gebet und Arbeit,
Aktion und Meditation miteinander zu verbinden? Oder hat mein Leben
Schlagseite?
Rechne ich in meinem Leben mit Gott?
Bemühe ich mich auch im Alltag, in der
Gegenwart Gottes zu leben?
Vertraue ich auf seinen Beistand und
seine Führung?
Fünftens:
Für Frieden und Versöhnung eintreten
Martin war ein Mann des Friedens und der
Versöhnung. Das Wort Gottes war ihm Maßstab und Orientierung. Er lebte
aus dem Geist des Evangeliums.
Er vergalt Böses nicht mit Bösem,
verurteilte und verdammte niemanden. Er war z. B. so geduldig, dass ihn,
den Bischof, selbst die einfachsten Geistlichen ungestraft beleidigen
konnten. Keinen hat er deswegen des Amtes enthoben.
Er strahlte eine solche Güte aus, dass
sogar seine Gegner davon beeindruckt waren. Er hat die Menschen seiner
Zeit durch Milde, durch Erbarmen und Großzügigkeit überzeugt.
Martin setzte sich für die zum Tod
verurteilten Irrlehrer ein. Und in der Pfarrgemeinde Candes vermittelte
er zwischen zerstrittenen Geistlichen und stiftete Frieden.
In Martin erfüllte sich das Wort
des Schrift: „Meide das Böse und tue das Gute,
suche den Frieden und jage ihm nach.“
Wir leben in keiner heilen Welt. Und wo
Menschen miteinander leben, da menschelt es. Streit flammt auch, das
rasche Wort. Auch wenn alle das Beste wollen, kann es zu Spannungen und
Konflikten kommen. Oft eskaliert die Situation.
Das Tragische und Verwerfliche ist nicht,
dass es Meinungsverschiedenheiten, Auseinandersetzungen und Streit gibt.
Die Frage ist: Wie gehen wir damit um? Und wie gehen wir in solchen
Situationen miteinander um?
Versuche ich trotz allem respektvoll und
wohlwollend zu sein?
Versuche ich auch über Gräben hinweg noch
die Hand auszustrecken?
Bemühe ich mich – wie Martin – zu
vermitteln, zu schlichten, Frieden zu stiften?
Oder gieße ich gar noch Öl ins Feuer?
„Geduld“
hat einmal jemand gesagt, „ist die Alltagsform der Liebe, Verzeihen
die Höchstform.“ Wie schwer fällt uns oft beides!
Gebet
Gott, unser Vater,
zu allen Zeiten schenkst du uns Menschen,
in denen deine Liebe zum Leuchten kommt
und in die Welt hineinstrahlt.
Wir danken dir für den heiligen Martin
dessen Leben uns vor Augen steht.
Er ist uns Vorbild im Glauben, in der
Hoffnung, in der Liebe.
Öffne auch uns die Augen
für die Aufgaben und Herausforderungen,
in denen wir Christus begegnen
und gib uns den Mut, wie Martin beherzt
das Rechte zu tun.
Auf seine Fürsprache segne und leite uns
auf unseren Wegen.
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