Der heilige Gregor der Große
sagte, dass die Schrift "mit ihren Lesern wächst", cum legentibus
crescit. Sie enthüllt immer neue Bedeutungen, je nachdem, welche Fragen
die Menschen beim Lesen im Herzen haben. Und in diesem Jahr lesen wir
den Passionsbericht mit einer Frage - eher mit einem Schrei in unseren
Herzen, der sich über die ganze Erde erhebt. Wir müssen die Antwort
suchen, die das Wort Gottes uns gibt.
Die Lesung des
Evangeliums,
die wir gerade gehört haben, ist der Bericht über das objektiv größte
Böse, das auf der Erde begangen wurde. Wir können es aus zwei
verschiedenen Blickwinkeln betrachten: entweder von vorne oder von
hinten, d.h. entweder von seinen Ursachen oder von seinen Auswirkungen.
Wenn wir bei den
historischen Ursachen des Todes Christi stehen bleiben, werden wir
verwirrt und jeder wird versucht sein, wie Pilatus zu sagen: "Ich bin
unschuldig am Blut dieses Mannes" (Mt 27, 24). Das Kreuz wird
besser durch seine Auswirkungen als durch seine Wurzeln verstanden. Und
was waren die Auswirkungen des Todes Christi? Gerecht gemacht durch den
Glauben an ihn, Versöhnung und Frieden mit Gott und Erfüllung mit der
Hoffnung auf ewiges Leben! (siehe Röm 53, 1 - 5).
Aber es gibt eine Wirkung,
die wir in der gegenwärtigen Situation besonders gut erfassen können.
Das Kreuz Christi hat die Bedeutung des Schmerzes und des menschlichen
Leidens verändert - jede Art von Leiden, physisch und moralisch. Es ist
nicht länger eine Strafe, ein Fluch. Es wurde an seiner Wurzel erlöst,
als der Sohn Gottes es auf sich nahm. Was ist der sicherste Beweis
dafür, dass das Getränk, das uns jemand anbietet, nicht vergiftet ist?
Es ist der Beweis, wenn diese Person vor uns aus demselben Kelch trinkt.
Das ist es, was Gott getan hat: Am Kreuz trank er vor der ganzen Welt
aus dem Kelch des Schmerzes bis auf den letzten Tropfen. Auf diese Weise
zeigte er uns, dass er nicht vergiftet ist, sondern dass sich am Boden
eine Perle befindet.
Und zwar nicht nur der
Schmerz derer, die glauben, sondern jeder menschliche Schmerz. Er starb
für alle Menschen: "Und ich, wenn ich über die Erde erhöht bin, werde
alle zu mir ziehen", sagte er (Joh 12, 32). Alle, nicht nur einige!
Der heilige Johannes Paul II. schrieb nach dem Attentat vom
Krankenhausbett aus: "Leiden bedeutet, besonders empfänglich zu
werden, besonders offen für das Wirken der heilbringenden Kräfte Gottes,
die der Menschheit in Christus angeboten werden" (Joh 12, 32). Dank
des Kreuzes Christi ist das Leiden auf seine Weise auch zu einer Art
"universellem Sakrament des Heils" für die Menschheit geworden.
Welches Licht wirft all dies
auf die dramatische Situation, in der sich die Menschheit jetzt
befindet? Auch hier müssen wir mehr auf die Auswirkungen als auf die
Ursachen schauen - nicht nur auf die negativen, von denen wir täglich in
herzzerreißenden Berichten hören, sondern auch auf die positiven, die
wir nur durch eine genauere Beobachtung erfassen können.
Die Pandemie des
Corona-Virus
hat uns schlagartig von der größten Gefahr befreit, der Einzelpersonen
und die Menschheit seit jeher ausgesetzt sind: dem Allmachtswahn. Ein
jüdischer Rabbiner hat geschrieben, dass wir in diesem Jahr die
Gelegenheit haben, einen ganz besonderen Osterexodus zu feiern, nämlich
"aus dem Exil des Bewusstseins". Es bedurfte lediglich des kleinsten und
formlosesten Elements der Natur, eines Virus, um uns daran zu erinnern,
dass wir sterblich sind, dass militärische Macht und Technologie nicht
ausreichen, um uns zu retten. Wie ein Psalm in der Bibel sagt: "Der
Mensch in Pracht, doch ohne Einsicht, er gleicht dem Vieh, das
verstummt." (Ps 49, 21). Wie wahr das ist!
Während er in der St. Paul's
Cathedral in London Fresken malte, war der Künstler James Thornhill an
einem bestimmten Punkt so begeistert von seinem Werk, dass er
zurücktrat, um es besser zu sehen, und sich nicht bewusst war, dass er
kurz davor war vom Gerüst zu fallen. Ein entsetzter Assistent begriff,
dass ein Schreien die Katastrophe nur noch beschleunigt hätte. Ohne
nachzudenken, tauchte er einen Pinsel in Farbe und schleuderte ihn in
die Mitte des Freskos. Der Meister sprang entsetzt nach vorne. Sein Werk
war beschädigt, aber er war gerettet.
Das macht Gott manchmal mit
uns: Er stört unsere Projekte und unsere Ruhe, um uns vor dem Abgrund zu
retten, den wir nicht sehen. Aber wir müssen uns davor hüten, uns
täuschen zu lassen. Gott ist nicht derjenige, der den Pinsel auf das
funkelnde Fresko unserer technologischen Gesellschaft geschleudert hat.
Gott ist unser Verbündeter, nicht der Verbündete des Virus! Er selbst
sagt in der Bibel: "Denn ich,...... habe Gedanken des Heils und nicht
des Unheils." (Jer 29, 11).
Wären diese Geißeln Strafen
Gottes, ließe sich nicht erklären, warum sie gleichermaßen Gute und Böse
treffen und warum die Armen gewöhnlich am meisten an den Folgen leiden.
Sind sie größere Sünder als die anderen?
Der, der über den Tod des
Lazarus geweint hat, weint heute über die Geißel, die über die
Menschheit hereingebrochen ist. Ja, Gott "leidet", wie jeder Vater und
jede Mutter. Wenn wir das eines Tages herausfinden, werden wir uns für
alle Anschuldigungen schämen, die wir im Leben gegen ihn erhoben haben.
Gott nimmt an unserem Schmerz Anteil, um ihn zu überwinden. "Da er
überaus gut ist - schrieb der heilige Augustinus - würde Gott in seinen
Werken kein Böses zulassen, es sei denn, er ist in seiner Allmacht und
Güte in der Lage, aus dem Bösen das Gute hervorzubringen".
Hat Gott der Vater
möglicherweise den Tod seines Sohnes gewollt, um Gutes daraus zu ziehen?
Nein, er hat der menschlichen Freiheit einfach ihren Lauf gelassen,
damit sie jedoch Seinen Zwecken und nicht denen der Menschen dient. Dies
gilt auch für Naturkatastrophen wie Erdbeben und Seuchen. Sie werden von
ihm nicht herbeigeführt. Er hat der Natur auch eine Art von Freiheit
gegeben, die sich natürlich qualitativ von der des Menschen
unterscheidet, aber dennoch eine Form der Freiheit, sich nach ihren
eigenen Gesetzen zu entwickeln. Er hat nicht eine vorprogrammierte Welt
geschaffen, in der alles geplant ist. Es ist das, was einige "Zufall"
nennen, aber die Bibel nennt es stattdessen "die Weisheit Gottes".
Die andere positive Frucht
der gegenwärtigen Gesundheitskrise ist das Gefühl der Solidarität. Wann
haben sich die Menschen aller Nationen im Gedächtnis der Menschheit
jemals so vereint, so gleichberechtigt, so wenig im Konflikt gefühlt wie
in diesem Moment des Schmerzes? Noch nie so sehr wie jetzt haben wir die
Wahrheit der Worte eines unserer großen Dichter erfahren: "Friede, ihr
Völker! Zu tief ist das Geheimnis der niedergeworfenen Erde". Wir haben
vergessen, Mauern zu bauen. Das Virus kennt keine Grenzen. In einem
Augenblick hat es alle Barrieren und Unterscheidungen von Rasse, Nation,
Religion, Reichtum und Macht. Wir sollten nicht zu alten Zeiten
zurückkehren, wenn dieser Moment vorüber ist. Wie der Heilige Vater uns
ermahnt hat, sollten wir diese Gelegenheit nicht verpassen. Lassen wir
nicht zu, dass so viel Schmerz, so viele Tote und so viel heroisches
Engagement der im Gesundheitswesen Tätigen vergeblich gewesen sind. Die
Rückkehr zur alten Situation ist die "Rezession", die wir am meisten
fürchten sollten.
„Dann werden sie ihre
Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und ihre Lanzen zu Winzermessern.
Sie erheben nicht das Schwert, Nation gegen Nation, und sie erlernen
nicht mehr den Krieg.“
(Jes 2, 4)
Dies ist der Augenblick,
etwas von der Prophezeiung des Jesaja in die Tat umzusetzen, auf dessen
Erfüllung die Menschheit schon lange gewartet hat. Sagen wir "Genug!" zu
dem tragischen Wettrüsten. Sagt es mit aller Kraft, ihr jungen Leute,
denn es geht vor allem um euer Schicksal. Widmen wir die unbegrenzten
Mittel, die für Waffen eingesetzt werden, den Zielen, die heute am
notwendigsten und dringendsten sind: Gesundheit, Hygiene, Ernährung,
Armutsbekämpfung, Bewahrung der Schöpfung. Überlassen wir der nächsten
Generation eine Welt, die, wenn nötig, ärmer an Gütern und Geld, aber
reicher an Menschlichkeit ist.
Das Wort Gottes sagt uns,
dass das erste, was wir in Zeiten wie diesen tun sollten, ist, zu Gott
zu schreien. Er selbst ist es, der den Menschen die Worte in den Mund
legt, um zu ihm zu schreien, manchmal harte Worte der Klage und fast
schon der Anklage: "Wach auf! Warum schläfst du, Herr? Erwache,
verstoß nicht für immer! Steh auf, uns zur Hilfe! In deiner Huld erlöse
uns! " (Ps 44, 24.27). "Meister, kümmert es dich nicht, dass wir
zugrunde gehen?" (Mk 4, 38).
Möchte Gott vielleicht
gebeten werden, damit er seine Wohltaten gewähren kann? Kann unser Gebet
Gott vielleicht dazu bringen, seine Pläne zu ändern? Nein, aber es gibt
Dinge, die Gott beschlossen hat, uns als Frucht seiner Gnade und unseres
Gebets zu gewähren, fast so, als ob er mit seinen Geschöpfen die
Anerkennung für den empfangenen Nutzen teilen würde. Gott ist derjenige,
der uns dazu veranlasst, es zu tun: "Sucht und ihr werdet finden;
sagt Jesus, klopft an und es wird euch geöffnet!" (Mt 7, 7).
Als die Israeliten in der
Wüste von Giftschlangen gebissen wurden, befahl Gott Moses, eine
Schlange aus Bronze an einem Pfahl zu erhöhen, und wer auch immer sie
ansah, wurde gerettet. Jesus machte sich dieses Symbol zu eigen, als er
Nikodemus sagte: "Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat,
so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der glaubt, in ihm
ewiges Leben hat." (Joh 3,14 - 15). Auch wir sind in diesem
Augenblick von einer unsichtbaren, giftigen "Schlange" gebissen worden.
Lasst uns auf denjenigen blicken, der für uns am Kreuz "emporgehoben"
wurde. Lasst uns ihn in unserem eigenen Namen und im Namen der ganzen
Menschheit anbeten. Wer ihn im Glauben anschaut, stirbt nicht. Und wenn
dieser Mensch stirbt, dann um ins ewige Leben einzugehen.
"Nach drei Tagen werde
ich auferstehen",
hatte Jesus vorhergesagt (vgl. Mt 9, 31). Auch wir werden nach diesen
Tagen, die hoffentlich kurz sein werden, auferstehen und aus den Gräbern
unserer Häuser herauskommen. Aber nicht, um wie Lazarus in das frühere
Leben zurückzukehren, sondern in ein neues Leben, wie Jesus. Ein
geschwisterlicheres, menschlicheres, christlicheres Leben! Amen
Diese hier im Wortlaut (nach einer
vorläufigen Übersetzung von Radio Vatikan) von einem Mitbruder gehaltene
Predigt, hat mich sehr angesprochen und mir gut gefallen, so dass ich
diese auch auf meiner Homepage veröffentlichen wollte. Pater Pius
Kirchgeßner, OFMCap
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