Vor genau 70 Jahren ist unter ganz
ungewöhnlichen Umständen ein Weihnachtsbild entstanden, das für mich zu
den ergreifendsten, ja erschütterndsten, zugleich aber auch zu den
hoffnungsvollsten gehört: Die Stalingrad-Madonna.
„1942“
steht oben links auf dem Bild und unten rechts: „Festung Stalingrad“.
Am linken Bildrand: „Weihnachten im Kessel“.
Es war im grauenvollen Kriegswinter 1942
in Russland, Festung Stalingrad. Über die Steppe heult ein eisiger Wind.
Temperaturen
um
die 30 Grad minus. In den Bunkern und Erdhöhlen leben, sterben, hungern
und frieren rund 250.000 deutschen Soldaten, eingeschlossen von der
Roten Armee, schwankend zwischen Verzweiflung und Hoffnung, den
Zusammenbruch und das Ende erwartend.
Insgesamt fallen 150.000 deutsche
Soldaten den Kämpfen, dem Hunger und der Kälte zum Opfer.
Weihnachten 1942.
Kein Christbaum, kein flimmernder Kerzenschein, keine strahlenden
Kinderaugen, kein gefüllter Gabentisch, kein leckerer Weichnachtsbraten.
Dafür Kälte, Hunger, Angst und wehmütige Erinnerungen an vergangene
Weihnachtsfeste.
Unter den Soldaten ist auch Kurt Reuber,
36 Jahre alt, Truppenarzt, evangelischer Pfarrer und begabter
Hobbykünstler.
Unter primitivsten Umständen und mit
großen Mühen malt er ein Bild mit Kohle auf die Rückseite einer großen
russischen Landkarte – etwas anderes fand sich nicht.
Mit diesem Bild wollte er die zermürbten
Soldaten bei der provisorischen Weihnachtsfeier am Heiligabend
überraschen. Es sollte den Kameraden Trost und Hoffnung schenken.
Das Bild zeigt eine Mutter mit ihrem
Kind: Maria und Jesus. Zwei hilflose Gestalten, wehrlos und arm. Sie
schmiegen sich aneinander in dieser harten, unerbittlichen Situation.
Doch Mutter und Kind sind nicht verloren.
Ein sanftes Licht fällt auf das Gesicht der Mutter, die sich dem Kind
zuneigt, seinen Kopf mit der Hand behutsam hält und es liebend bei sich
birgt.
Wie die Mutter ihr Kind umhüllt, so sind
beide nochmals umfangen von einem weiten Mantel. Behütet und geborgen
mitten im Angesicht von Schrecken und Gewalt.
Wie viel Wärme, welche Ruhe, welch tiefer
Friede geht aus von dieser Madonna von Stalingrad! Welche Kraft und
Sicherheit von dem, der Mutter und Kind umschließt – von Gott!
Der Heiligabend nahte. Kurt Reuber
befestigte das Bild an der Lehmwand des Notbunkers, rammte darunter ein
Holzscheit ein, stellte eine Kerze darauf und zündete sie an. Dann
öffnete sich die Brettertür. Jeder der eintrat hielt inne. Wie gebannt,
ganz andächtig und ergriffen standen sie schweigend vor dem Bild. Und
gedankenvoll lasen sie die Worte: „Licht, Leben, Liebe“.
Das war die große Sehnsucht eines jeden:
Licht, Leben, Liebe. Manchem kamen die Tränen. Der eine oder
andere kam auch während der Nacht wieder und schaute schweigend im
Schein der Kerze auf das Bild, schaute, umgeben von Dunkelheit, Angst,
Not und Tod auf die Mutter und das Kind.
Der Bunker wurde zum Heiligtum, das Bild
zum Gnadenbild. Ein Trost- und Hoffnungsbild inmitten all des Elends,
inmitten aller Verlorenheit und Ausweglosigkeit.
Die Kohlezeichnung wurde mit einer der
letzten Transportmaschinen aus dem Kessel von Stalingrad ausgeflogen.
Oberarzt Reuber konnte es zusammen mit
einem Brief einem schwerverwundeten Kommandeur mitgeben. Dieser
überbrachte es der Familie Reuber in Deutschland.
Kurt Reuber kam 5 Wochen später bei der
Kapitulation der 6. Armee in russische Gefangenschaft. Dort starb er am
20. Januar 1944 an Flecktyphus.
Welchen Glauben hatte dieser Mann, liebe
Schwestern und Brüder, der im Angesicht des Todes ein solches Bild malen
konnte! Auf der einen Seite: „Weihnachten im Kessel“, Hinweis auf
Untergang und Tod. Auf der anderen Seite: „Licht, Leben, Liebe“,
die Botschaft von Rettung und Heil.
Licht!
Nicht die Nacht wird am Ende siegen, sondern:
„Der Glanz des Herrn umstrahlte sie.“
Leben!
Nicht der Tod wird für immer triumphieren, sondern:
„Heute ist euch der Retter geboren.“
Liebe!
Nicht Hass und Gewalt haben das letzte Wort, sondern:
„Ein Kind in der Krippe – Friede auf
Erden.“
Schwestern und Brüder!
Weihnachten 2012.
Wir feiern das Fest – Gott sei Dank – nicht im Kessel, weder im Kessel
von Stalingrad, noch im Kessel von Afghanistan noch im Kessel von
Syrien, Palästina oder Mali…
Weihnachten 2012.
Wir feiern das Fest – Gott sei Dank – in geheizten Stuben. Und doch
wissen wir, dass auch hier, bei vielen, Freude, echte Weihnachtsfreude,
nicht aufkommt, weil Menschen sich auf andere Weise wie eingekesselt
fühlen, gefangen im Kessel von Ängsten und Sorgen, im Kessel von
Spannungen und Konflikten, im Kessel von Fragen und Zweifeln,
eingekesselt von Enttäuschungen, Misstrauen und Einsamkeit, in den
Krallen von Profitsucht, Habgier, Geiz u. Neid, gefangen und eingezwängt
im Hamsterrad des „Immer mehr - Immer besser - Immer schneller“,
im Kessel von Hast und Eile, Zeitnot und ruheloser Betriebsamkeit.
So vieles, was das Leben belastet, es
schwer macht.
So vieles, was niederdrückt und beugt und
lähmt.
„Licht, Leben, Liebe“
Ist das nicht auch die Sehnsucht vieler
Menschen heute?
In
der Hölle von Stalingrad
öffnete sich am Heiligabend 1942 ein Stück Himmel. – Auch wir können,
wie Kurt Reuber, ein Stück Himmel öffnen, indem wir Licht bringen, wo
Dunkelheit herrscht, indem wir Liebe üben, wo Hass regiert, indem wir
verbinden, wo Streit ist und indem wir Freude machen, wo der Kummer
wohnt. Dann ist auch bei uns Weihnachten, und das nicht nur an
Heiligabend und am 25. Dezember. – Vergessen wir nicht: Gott hat keine
anderen Hände und Füße als die unsrigen! Freude und Hoffnung aber, die
wir andern schenken, kehren ins eigene Herz zurück.
„Licht, Leben, Liebe“ haben einen Namen, liebe Mitchristen:
JESUS,
das Kind in der Krippe. „Jesus“ heißt: „Gott rettet“.
In diesem kleinen, gefährdeten, so
schutzlosen Kind kommt Gott selber zu uns. Er kommt in unsere
Endlichkeit, in unsere Dunkelheit, in unsere Armut, in unsere Angst und
Einsamkeit. Im
Kind von Bethlehem
wird er einer von uns, unser Bruder. Er teilt unser menschliches Los, um uns
Anteil zu geben an seinem göttlichen Leben. Im Wunder der Heiligen
Nacht hat Gott das Licht der Hoffnung zu uns gesandt, damit wir es
weiterschenken und so zum Licht füreinander werden.
Gott, du tragender Grund und rettender
Halt.
Du weißt um uns. Du bist immer bei uns.
Du umgibst uns von allen Seiten. Du gehst
alle Wege mit.
-
In Dunkelheit und Nacht schenk uns – dein
L I C H T
-
In Angst und im Tod schenk uns – dein
L E B E N
-
In Kälte und Einsamkeit schenk uns – deine
L I E B
E
Gedanken vor den Fürbitten:
Die Stalingrad-Madonna ist eine Ikone
christlichen Glaubens, ein Symbol für die Kraft der Liebe, damals mitten
im totalen Krieg und heute in den Kämpfen, die Menschen auszufechten,
auszustehen und durchzustehen haben in ihrem Leben.
Seit 1983 hängt das Original der
Stalingrad-Madonna in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin.
Kopien befinden sich in der Kathedrale
von Coventry, England
und in der Kathedrale von Wolgograd, wie
Stalingrad heute heißt.
Die Stalingrad-Madonna mahnt zum Frieden,
zur Versöhnung.
Sie ruft: Nie wieder Krieg!
Krieg ist nur eines: zerstörerisch!
Und er hinterlässt nur eines: Opfer!
Die Gebete der Christen in Wolgograd
vereinigen sich mit denen der Christen in Berlin und Coventry zu einer
vielstimmigen Bitte um „Licht, Leben und Liebe“, und um Frieden
für uns und für die ganze Welt.
Und jetzt, heute kommen unsere Gebete
dazu, die Gebete der Christen von……………………..und Umgebung.
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